Der ultimative Titel-Test: Kann die aktuelle DFB-Stammelf mit den Weltmeistern mithalten?
Im Sommer des vergangenen Jahres war es. Hansi Flick hatte gerade erst seine Tätigkeit als Bundestrainer begonnen, da verkündete Manuel Neuer, er wolle in Katar Weltmeister werden. Diese Aussage hat tatsächlich einigen Wirbel ausgelöst. Als wäre es jemals anders gewesen, wenn eine deutsche Fußball-Nationalmannschaft an einer WM-Endrunde teilgenommen hat.
„Wir haben eine hohe Qualität“, sagt Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft. „Wir gehen alle mit dem Mindset rein, dass wir das Turnier gewinnen können“, sagt Mittelfeldspieler Jamal Musiala. „Wir wollen das Maximum“, sagt Hansi Flick.
Das Maximum bei einer Weltmeisterschaft ist der WM-Titel. Ist das realistisch? Oder schon Größenwahn? Die nächsten Wochen werden es zeigen.
Um die Titeltauglichkeit der deutschen Mannschaft zu testen, unterziehen wir sie der härtesten Prüfung, die es nur geben kann: dem Duell mit den Weltmeistern von 2014. Position für Position vergleichen wir die Stammelf von Joachim Löw in Brasilien (Team Rio) mit der potenziellen Stammelf seines Nachfolgers Hansi Flick in Katar (Team Doha).
Es ist nicht die Mannschaft, die an diesem Mittwoch (14 Uhr, live in der ARD) gegen Japan in die WM starten wird; es ist die Mannschaft, die sich im Laufe des Turniers als erste Elf herausschälen könnte, also mit Leroy Sané, der wegen einer Knieverletzung für den WM-Auftakt ausfällt.
NEUER VS. NEUER
Beide Teams können, zumindest nach eigener Einschätzung, den besten Torhüter der Welt aufbieten. Und interessanterweise handelt es sich dabei in beiden Fällen um Manuel Neuer. Der Münchner ist einer von vier Weltmeistern von 2014, die im Aufgebot von Hansi Flick für die WM 2022 stehen – und vermutlich der einzige, der sich seines Stammplatzes uneingeschränkt sicher sein kann.
Torhüter, so heißt es, werden mit zunehmendem Alter und zunehmender Erfahrung eher noch besser. Aber besser als Manuel Neuer 2014?
In Brasilien verhinderte er als verkappter Libero im Achtelfinale gegen Algerien das frühe Aus; im Viertelfinale gegen Frankreich ließ er einen Schuss von Karim Benzema an seinem ausgestreckten Arm zerschellen, und im Endspiel räumte er todesmutig den Argentinier Gonzalo Higuain ab (wofür ihm rätselhafterweise die Rote Karte erspart blieb). Energie schlägt Erfahrung.
Team Rio 1 : 0 Team Doha
Wir gehen alle mit dem Mindset rein, dass wir das Turnier gewinnen können.
Nationalspieler Jamal Musiala vor der WM in Katar
LAHM VS. KEHRER
Selbst in Zeiten des über alle Zweifel erhabenen Philipp Lahm war die Außenverteidigerposition die größte Schwachstelle des deutschen Fußballs – weil es Lahm nun mal nur in einfacher und eben nicht in doppelter Ausführung gab und man sich deshalb entscheiden musste, ob er hinten links oder hinten rechts verteidigen sollte.
In Brasilien spielte der Münchner zunächst im defensiven Mittelfeld. Erst ab dem Viertelfinale und nach einem erfolgreichen Volksbegehren gegen die Aufstellungspolitik des Bundestrainers kehrte er in die Viererkette zurück. Doch selbst das konnte Lahm nicht davon abhalten, eine Art Spielmacher der deutschen Mannschaft zu sein.
Das kann Thilo Kehrer nicht von sich behaupten. Kehrer ist zwar so etwas wie Flicks Allzweckwaffe, trotzdem bleibt er auch als Außenverteidiger immer ein bisschen Vorstopper. Kehrers Beitrag für das deutsche Offensivspiel ist überschaubar. Auch weil der Matchplan des Bundestrainers es so will. Daher: Punkt für Lahm.
Team Rio 2 : 0 Team Doha
BOATENG VS. SÜLE
Niklas Süle ist ein furchtloser Verteidiger. Er hat im Sommer das schöne München und den nimmersatten FC Bayern verlassen, um fortan mit Borussia Dortmund Titel zu gewinnen. Dass Niklas Süle immer immer den bequemen Weg wählt, kann man ihm also ganz sicher nicht vorwerfen.
Der frühere Münchner bringt ähnliche Qualitäten mit wie sein früherer Mitspieler Jerome Boateng. Er ist groß, schnell, furchtlos.
Aber Boateng bewegte sich in seiner besten Zeit – also rund um die WM 2014 – noch einmal auf einem anderen Niveau. Wer das bezweifelt, der darf sich gerne noch einmal die Aufzeichnung des Finales gegen Argentinien anschauen. Daher: Punkt für Boateng.
Team Rio 3 : 0 Team Doha
HUMMELS VS. RÜDIGER
„Toni ist unser Abwehrchef“, hat Hansi Flick bei der Vorstellung seines WM-Kaders über Antonio Rüdiger gesagt. Dieses Amt hat Mats Hummels nie bekleidet, was aber gar nicht zwingend gegen Mats Hummels spricht.
Wer mit Hummels und Boateng in der Zentrale verteidigt, der braucht nicht unbedingt einen Chef, der alles vorgibt. Da werden die Dinge auf dem kleinen Dienstweg geregelt.
Hummels hat 2014 ein tadelloses WM-Turnier gespielt. Aber Rüdiger steht aktuell noch leicht über ihm. Der gebürtige Berliner hat vor einem Jahr mit dem FC Chelsea die Champions League gewonnen, spielt inzwischen für Real Madrid, eine der größten Adressen des Weltfußballs, und verkörpert als Verteidiger eine Unerbittlichkeit, die beeindruckend ist. Nicht nur für die gegnerischen Stürmer. Daher: Punkt für Rüdiger.
Team Rio 3 : 1 Team Doha
HÖWEDES VS. RAUM
Äpfel und Birnen, so heißt es, könne man nicht miteinander vergleich. Das ist natürlich Quatsch. Natürlich kann man Äpfel mit Birnen vergleichen. Man kommt dann zum Beispiel zu dem Ergebnis, dass sie sich in Form und Geschmack unterscheiden.
So ähnlich ist es auch mit Benedikt Höwedes und David Raum, die beide als linke Außenverteidiger geführt werden, aber abgesehen von ihrer Jobbeschreibung wenig gemein haben. Während Raum ein verkappter Flügelstürmer ist, hat Höwedes seine Vorstopper-Natur nie verleugnen können.
Bei der WM in Brasilien hat der Rechtsfuß nur deshalb hinten links verteidigt, weil Joachim Löw einer seltsamen Eingebung folgend seine komplette Viererkette mit bulligen Innenverteidigern besetzen wollte. Im Rahmen seiner eingeschränkten Möglichkeiten hat Höwedes den Job auf der linken Außenbahn zur allgemeinen Zufriedenheit erledigt. Das lässt sich von David Raum aktuell eher nicht behaupten. Daher: Punkt für Höwedes.
Team Rio 4 : 1 Team Doha
SCHWEINSTEIGER VS. KIMMICH
Bastian Schweinsteiger war bei der WM in Brasilien Deutschlands Schmerzensmann. Unvergessen die Bilder aus dem Finale gegen Argentinien, als ihm das Blut übers Gesicht lief, Schweinsteiger lange behandelt wurde, kurz vor der Auswechslung stand, aufs Feld zurückkehrte – und noch ein letztes Mal gefoult wurde. Dann pfiff der Schiedsrichter ab, und Deutschland war Weltmeister.
Joshua Kimmich ist in vielem die moderne Variante von Bastian Schweinsteiger. Anführer bei den Bayern und in der Nationalmannschaft, ehrgeizig, erfolgsbesessen, Stratege auf der Sechs. Allerdings auch manchmal hyperaktiv, weil er sich für unentbehrlich hält.
Schweinsteiger wäre dazu 2014 in Brasilien schon körperlich nicht in der Lage gewesen. In diesem Fall trennen sich Erfahrung und Energie unentschieden.
Team Rio 4,5 : 1,5 Team Doha
KHEDIRA VS. GORETZKA
Sieben Monate vor der WM in Brasilien war die WM für Sami Khedira eigentlich schon beendet. Im Testspiel gegen Italien riss ihm das Kreuzband entzwei. Aber der Mittelfeldspieler von Real Madrid tat das, was er immer tat: Er gab nicht auf. Pünktlich zum Finale der Champions League mit Real stand er wieder auf dem Rasen, im ersten WM-Spiel gegen Portugal sogar in der Startelf. Eine beachtliche Leistung.
Trotzdem war Khedira nach der langen Pause natürlich nicht der Khedira, der er hätte sein wollen. Sein Spiel hat immer von der Physis gelebt. In dieser Hinsicht ist ihm der Münchner Leon Goretzka, der voll im Saft steht, im Moment einen Tick voraus. Daher: Punkt für Goretzka.
Team Rio 4,5 : 2,5 Team Doha
KROOS VS. MUSIALA
Im Anlauf auf seine erste WM als Cheftrainer hat sich Hansi Flick mit seinem Vorgänger zum Mittagessen getroffen, um von dessen reichem Erfahrungsschatz zu profitieren. Joachim Löw hat ihm bei dieser Gelegenheit eröffnet, dass in den Wochen vor dem Turnier eine gewisse mediale Aufgeregtheit herrsche. „Manchmal kann man sich wundern, wer auf einmal in Topform ist, wessen Aktionen schnell das Prädikat Weltklasse bekommen“, hat Flick erzählt.
Man könnte meinen, der Bundestrainer hätte damit explizit auf den Hype um Jamal Musiala angespielt, der in den vergangenen Wochen auf Übergröße angewachsen ist. „Das ist Zauberei, das ist Messi-like“, hat zum Beispiel Lothar Matthäus über die Künste des 19 Jahre alten Münchners gesagt.
Nicht nur gemessen an seinem Alter sind Musialas Fähigkeiten außergewöhnlich spektakulär – auf den ersten Blick wahrscheinlich sogar spektakulärer als die von Toni Kroos.
Aber das liegt auch daran, dass bei Kroos immer das Unspektakuläre spektakulär war: spektakulär gut und deshalb extrem hilfreich für das Spiel seiner Mannschaft und deren Statik. „Der Junge macht wirklich alles gut“, hat selbst der große holländische Fußballphilosoph Johan Cruyff 2014 über Kroos gesagt. Das muss Musiala bei allem Potenzial erst noch hinkriegen. Unentschieden.
Team Rio 5 : 3 Team Doha
MÜLLER VS. GNABRY
Serge Gnabry ist im Moment bestens in Schuss, gerade rechtzeitig zur WM. Thomas Müller kennt das. Rechtzeitig zu WM-Endrunden war er auch immer bestens in Schuss, zumindest bei den ersten beiden.
Sowohl 2010 in Südafrika als auch 2014 in Brasilien erzielte Müller jeweils fünf Tore. Daran konnte ihn in Brasilien auch die Versetzung auf die rechte Außenbahn nicht hindern. Der ausgebildete Raumdeuter fand trotzdem verlässlich den Weg in den Strafraum und vor das Tor des Gegners.
Sein Münchner Teamkollege Serge Gnabry verfügt ebenfalls über diese Fähigkeit, schlängelt sich, anders als Müller, im Zweifel auch mit Ball am Fuß durch die gegnerischen Abwehrreihen. Aber Müller war eben nicht nur Vollstrecker, sondern zusätzlich noch Antreiber und Ankurbler. Daher: Punkt für Müller.
Team Rio 6 : 3 Team Doha
Leroy Sané trägt die Körpersprache von Mesut Özil auf
ÖZIL VS. SANÉ
Hängende Schulter, müder Blick: Böse Zungen behaupten, die alte Körpersprache von Mesut Özil werde jetzt von Leroy Sané aufgetragen. Die latente Skepsis des deutschen Publikums, die früher Özil entgegengeschlagen ist, gibt es gratis hinzu.
Das war schon bei Özil nicht immer fair, das ist es auch bei Sané nicht. Beide müssten qua ihrer fußballerischen Fähigkeiten eigentlich über alle Zweifel erhaben sein, trotzdem wurden und werden sie oft kritischer gesehen als ihre Kollegen.
Mesut Özil hat 2014 in Brasilien nicht so geglänzt, wie er hätte glänzen können, aber er hat sich für den Erfolg der Mannschaft untergeordnet, hat – mit hängenden Schultern und müdem Blick zwar – als Zehner verlässlich seinen Dienst im offensiven linken Mittelfeld verrichtet. Daher: Punkt für Özil.
Team Rio 7 : 3 Team Doha
Kai hat alles: viel Talent, Technik und auch eine gute Physis.
Oliver Bierhoff, Manager Nationalmannschaft, über Kai Havertz
KLOSE VS. HAVERTZ
Miroslav Klose hat bei der WM in Brasilien Geschichte geschrieben. Mit seinem Tor im Halbfinale gegen den Gastgeber zog er in der ewigen Torschützenliste an Ronaldo, dem Älteren, vorbei und ist seitdem der beste Torschütze der WM-Historie.
Bei einer solchen Bilanz sollte das Duell mit Kai Havertz eigentlich eine klare Sache sein. Ist es aber nicht. Klose, bei der WM 2014 bereits 36 Jahre alt, befand sich längst im Abspann seiner Karriere. Unantastbar war er nicht mehr.
Aber Havertz? Erst 22 Jahre alt und nicht mal ein richtiger Mittelstürmer, selbst wenn er bei seinem Klub, dem FC Chelsea, inzwischen vornehmlich auf der Neun zum Einsatz kommt.
Doch wozu Havertz fähig ist, das hat der erwiesenermaßen feine Fußballer im Mai 2021 gezeigt, als er Chelsea mit seinem Tor gegen Manchester City zum Titel in der Champions League schoss. „Kai hat alles“, sagt Oliver Bierhoff. „Viel Talent, Technik und auch eine gute Physis.“ Und Bierhoff muss es als ehemaliger Stürmer schließlich wissen. Unentschieden.
Team Rio 7,5 : 3,5 Team Doha
FAZIT
Ein letztlich standesgemäßer Erfolg für die Weltmeister von 2014. Das Team Doha verfügt durchaus über Klasse und Talent, aber noch nicht über die Wettkampfhärte, die dem Team Rio vor acht Jahren den WM-Titel bescherte. Weltmeister können Flicks Spieler natürlich trotzdem werden.
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