Kann Kunst heilen?, fragt eine Berliner Schau: Kuschelzonen im Museum
Heilung tut not. Der Planet überhitzt, Pandemien kreisen, die Folgen des Kolonialismus schmerzen, und die Kriege hören nicht auf. Was dem entgegensetzen? Der Kunstbetrieb sinnt neuerdings auf Abhilfe. Schlagworte wie „Care“, Heilung und Reparatur, machen die Runde auf Biennalen und in Museen. Während sich das Haus am Waldsee in ein Sanatorium für Psycholeiden verwandelt, lädt der Martin-Gropius-Bau mit dem Ausruf „Yoyi!“ dazu ein, zusammenzukommen und zu tanzen, zu trauern und zu feiern.
Wohltuend soll das wirken auf Körper, Geist und Gesellschaft. Der Ausstellungstitel entstammt der Sprache von Indigenen auf einer abgelegenen Insel Nordaustraliens. In einem Video führen Ureinwohner vor, worum es geht: Unter Bäumen oder am Strand tanzen sie auf angestammter Erde. Brook Andrew, der 2020 die Sydney-Biennale leitete und selbst indigene sowie keltische Wurzeln hat, bringt als Ko-Kurator einen starken Schwerpunkt ein. Riesengroß spannt sich etwa das helle Leinwandgeviert der beiden First-Nations-Künstlerinnen Betty Muffler und Maringka Burton. Aufgrund ihres hohen Alters konnten sie nicht zur Eröffnung anreisen. Aber ihre Gedankenspuren und die Fährten ihrer Ahnen haben sie in verschlungenen Linien aufgezeichnet.
Welche Wege aus den Krisen der Gegenwart führen könnten, darin sind sich die Mitwirkenden dieser Schau mit dem Untertitel „Care, Repair, Heal“ keineswegs einig. 26 Künstler:innen breiten ihre Denkanstöße und Therapievorschläge im Erdgeschoss des Hauses aus: ein weitverzweigtes Themenspektrum von Feminismus bis Postkolonialismus. Die akupunkturartige Nadelstichtaktik arbeitet dabei mit konkreten Fallbeispielen aus aller Welt.
Man durchläuft den Parcours wie ein Wechselbad aus angenehm wohligen und reichlich unbehaglichen Momenten. Für Direktorin Stephanie Rosenthal ist es ihre letzte Schau, bevor sie nach Abu Dhabi abschwirrt. Sie hat sich Verstärkung durch ein vielköpfiges Kurator:innenteam geholt, als Antidot gegen Eurozentrismus. Federführend mit dabei ist Kader Attia, Chef der diesjährigen, sehr politischen Berlin Biennale.
Ihn treibt der Wunsch nach Heilung auch in seiner künstlerischen Arbeit um. Diesmal stellt er eine Porzellanschale aus. Sie wurde aus Scherben wieder zusammengekittet. Jetzt leuchten die Risse blutrot auf dem Gefäß, als Narben seiner Geschichte. Genauso sei es mit den Traumata der Historie, den Wunden des Kolonialismus oder der deutsch-deutschen Geschichte, so Attia. In Videointerviews lässt er Psychoanalytiker:innen zu Wort kommen: Heilung sei nur möglich, wenn Verletzungen nicht verdrängt werden. Das gelte, Mikrokosmos gleich Makrokosmos, in der Seele des Individuums wie im Gesamtorganismus der globalen Welt.
Lieder, beim Getreidemalen gesungen
Gegen das Vergessen stemmt sich auch das „Grindmill Songs Project“. Tausende Stimmen von Frauen aus dem indischen Bundesstaat Maharahtra wurden darin seit 1987 aufgezeichnet. Ihre beim Getreidemalen gesungenen Lieder erzählen von Alltag, Liebe, Arbeit. Sie zu bewahren, schenkt den Marginalisierten Aufmerksamkeit. „I wanted to say something and had to whisper“, bekundet ein Plakat, das nebenan in Eva Kotatkovas Rauminstallation wie ein Demo-Transparent in die Luft ragt, inmitten eines Bündels von Text- und Bildbotschaften. Sie sprechen von körperlichen Erfahrungen der Krankheit und Ausgrenzung. Schon sich zu äußern, kann heilsam sein. Aber die Botschaft kommt allzu plakativ rüber.
Durch Rätselhaftigkeit dagegen fasziniert Yhonnie Scarces düstere Arbeit „Missile Park“. In drei Wellblechschuppen reiht sie Dutzende schwarzglänzender Glasobjekte auf Tischen. Die mundgeblasenen Volumen erinnern an reife Früchte – oder Bomben. Sie verweisen auf ein dunkles Kapitel der australischen Geschichte: Britische Atomtests der 1950er und 1960er Jahre verursachten Strahlenvergiftung, Vertreibung und Traumata für Generationen Einheimischer, die Familie der Künstlerin, inbegriffen. Kann es Heilung von so etwas überhaupt geben?
Traditionelles Wissen über Imkern reaktivieren
Nicht alle Akteure sind optimistisch. Während Tabita Rezaire sich neuerdings als Landwirtin am Amazonas betätigt, um traditionelles Wissen beim Imkern und Kakaozüchten zu reaktivieren, erzählt Andrea Büttner auf andere Weise vom Gärtnern. Auf ihren Großfotos überwuchert wildes Gras alte Betonfundamente. Es sind die Umrandungen von Beeten im Konzentrationslager Dachau, wo die SS an biodynamischer Landwirtschaft forschte. Zu den braunen Wurzeln der Ökobewegung organisierte die Künstlerin im Juli eine wissenschaftliche Tagung mit dem Titel „Against Healing Workshop“.
Auch Grace Ndiritu zeigt sich nicht versöhnlich. Sie hat 2012 das Projekt „Healing the Museum“ gestartet, in dem sie mit Ritualen arbeitet, aber vor allem ein postkoloniales Aufarbeiten der Museen einfordert. Auf einer großformatigen Tapisserie lacht einem die Belegschaft des Berliner Ethnologischen Museum im Jahr 1973 entgegen. Zum Gruppenfoto versammelt lümmeln die Mitarbeiter lässig auf dem berühmten Perlenthron Mandu Yenu aus Kamerun. Mittlerweile steht er als Zentralstück im Humboldt Forum.
Als Kontrastprogramm lockt eine softe Tiefsee-Kuschelzone. Bei Anne Duk Hee Jordan darf sich jeder, umschwärmt von fluoreszierenden Wasserlebewesen, selbst wie ein Einzeller fühlen. Doch die Therapie ist hier noch lange nicht zu Ende. Während Mohamed Bourouissa den Garten einer Psychiatrie in Algerien erkundet, bringt Altmeisterin Paula Rego in einer beklemmenden Grafikserie aus den 1990er Jahren die Leiden von Frauen unmittelbar vor oder nach einer illegalen Abtreibung aufs Tapet.
Hexenwahn, Kräuterkunde, Astrologie
Mit dem weiblichen Körper befasst sich auch Johanna Hedva. Sie mixt uralte Bildzeugnisse zu Hexenwahn, Kräuterkunde und Astrologie mit Autobiographischem zu einem abgründigen Gebräu. Ob das kräftigend im Sinn weiblicher witchcraft wirken soll oder eher nach Befreiung aus uralten Rollenbildern schreit, bleibt jedoch offen.
Es gehe auch darum, Widersprüche und Ambivalenzen auszuhalten, meint Stephanie Rosenthal. In die Stimmenvielfalt der Gegenwart mischt sich auf ihren Wunsch hin auch ein Gast aus dem 17. Jahrhundert. Artemisia Gentileschis Ölgemälde „Susanna und die beiden Alten“ füllt mit seiner Aura einen ganzen Raum. Die unbekleidete Bibelheldin taucht einen Fuß ins Badewasser, als ihr von hinten zwei Männer unangenehm auf den Leib rücken.
Im Bild präsent ist die eigene Erfahrung der Künstlerin. Gentileschi wurde mit 17 von ihrem Lehrer vergewaltigt. Der Vater machte es publik, um den Ruf der Tochter zu retten. Doch die ging daran, ihr Trauma zu bearbeiten – und nutzte damals klug die gängigen Narrative der Malerei. Frei nach Joseph Beuys: Zeige deine Wunde. Der Künstlerschamane würde sich wundern, wie aktuell seine Ideen durch Kunst zu heilen und politisch zu wirken wieder sind.
Von nebenan dringt Musik herein. In der Schwärze des abgedunkelten letzten Saals überlassen sich die queere Performerin Tosh Basco und der Tänzer Josh Johnson den Impulsen ihrer Körper. Klang, Bewegung und Raum werden eins. Also doch: Es muss getanzt werden. Denn Tanzen und Denken schließen einander nicht aus. Wer mehr will: Im Begleitprogramm finden sich auch Atem- und Körperübungen.
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