„Ophelia’s Got Talent“ an der Volksbühne: Make-up für die Wasserleiche

Keine Frage: Ophelia hat einen Ruf zu verlieren. Und zwar einen schlechten. Als handzahme Dulderin, die erst an ihrem Geliebten Hamlet den Verstand verliert und dann als Wasserleiche endet, rangiert sie im Ranking der missliebigsten weiblichen Bühnenfiguren mindestens unter den Top Five. Und hat zurzeit, wo es vielerorts darum geht, den Dramenkanon feministisch zu dekonstruieren, entsprechend Hochkonjunktur.

Dass es zum Saisonauftakt in der Berliner Volksbühne speziell die als „Extrem-Performerin“ gelabelte Florentina Holzinger ist, die sich dieser Shakespeare’schen Antiheldin annimmt, sorgt für begründete Vorfreude. Wem sonst wäre es zuzutrauen, das anämische Opfer-Klischee wirklich aus seiner Leichenstarre zu befreien als der 36-jährigen Choreografin mit ihrer ureigenen Theatersprache aus Hochkultur-Event, Party und Stuntshow – geschult an ziemlich allem, was sich zwischen Hermann Nitsch, Quentin Tarantino und Marina Abramović denken lässt?

Ehrenrettung der Shakespeare’schen Antiheldin

Wie das funktionieren kann, abgehalfterte Stereotype tatsächlich auszuhebeln statt sie – wie man es zuletzt leider wesentlich häufiger sah – wortreich zu bebarmen und dabei aus Versehen eher noch zu zementieren, weiß eine breitere Theateröffentlichkeit aus Holzingers Produktion „Tanz“, die 2020 zum Berliner Theatertreffen eingeladen war: eine Show mit – ein Holzinger-Markenzeichen – nackten Body-Suspension-Künstlerinnen, die, befestigt an durchs Rückenfleisch gestochenen Metallhaken, sehr selbstbestimmt durch die Luft schwebten.

Tatsächlich folgt „Ophelia’s Got Talent“, wie der aktuelle Abend heißt, einer ähnlichen Dramaturgie. Bildete dort eine grandios in Richtung Splatter-Orgie entgleisende Ballettstunde den Rahmen, ist es jetzt eine angeschrägte TV-Talentshow, die fulminant aus dem Ruder läuft. Und zwar buchstäblich. Denn in „Ophelia’s Got Talent“ dreht sich alles ums Wasser: als erfreulich ambivalentes, fluide-flexibel sich ausdehnendes Element; als Symbol des Ursprungs gleichermaßen wie des – Stichwort Wasserleiche – Endes und natürlich als Referenzmedium für all die angeblich schwer erotisierenden Sirenen, Undinen und weiteren Wasserwesen, die so durch die Kulturgeschichte geistern.

Die österreichische Choreografin Florentina Holzinger dekonstruiert stereotype und normierte Körperbilder.
Die österreichische Choreografin Florentina Holzinger dekonstruiert stereotype und normierte Körperbilder.
© Foto: Apollonia T. Bitzan

Nikola Knežević hat ein riesiges Wasserbassin auf die Bühne gebaut, zusätzlich flankiert von überlebensgroßen Aquarien. Per Livekamera wird alles auf Großleinwände übertragen – von schrägen Unterwasser-Choreografien über die Nahaufnahme eines Live-Piercings bis zum Körperinneren einer Performerin, die erst Schwerter und dann eine Kamera verschluckt.

Dabei setzen die die Akteurinnen der Fantasie vom betörenden, aber selbst seltsam passiven Wasserwesen einerseits abendfüllend ihre höchst reale Körperkraft und -kunst entgegen, die es wiederholt mit der Schwerkraft aufnimmt. Und andererseits zweckentfremden sie lässig alle erdenklichen, auch männlichen Stereotype rund um die Großmetapher Wasser. Etwa im „Sailor’s Dance“, einer großen Ensemble-Step-Nummer, die sich zum Schuhplattler und weit darüber hinaus steigert: getanzt von Frauen, die dabei in ihrer Nacktheit en passant, einfach durch ihre Präsenz, die Kategorie „Körpernorm“ – entlang von Alter, Ability oder Body-Mass-Index – schlicht aushebeln.

(Nächste Vorstellungen vom 17. bis 19. sowie am 25. und 26. September)

Was hier stattfindet, ist nicht einfach nur die viel beschworene Dekonstruktion. Es geht nicht darum, dass das angestammt Angestaubte hinterher (bestenfalls) in seinen Einzelteilen auf dem Bühnenboden liegt. Sondern Holzinger setzt in unmissionarischster Selbstverständlichkeit ureigene Bilder dagegen. Am unterhaltsamsten sicher in der grandiosen Helikopter-Nummer, in der die Frauen ein vom Schnürboden hängendes Flugzeug umturnen, bis zur kollektiven Kopulation nebst finalem Orgasmus.

Florentina Holzinger beschert der Volksbühne zum Spielzeitauftakt eine gigantische Party. Und zwar eine, die im besten Sinne komplett bei sich und deshalb extrem infektiös ist. Am Ende steht der komplette Zuschauerraum und feiert: Nach dem Pollesch-Hinrichs-Abend „Geht es dir gut?“ ist „Ophelia’s Got Talent“ der zweite veritable Hit seit Polleschs Intendanzstart an der Volksbühne. Sie kann’s gebrauchen.

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