„Kunst als Indiz“ von Frank Witzel: Wie der Mensch zum Mörder wird
Wie viel Surrealismus steckt in der Fernsehserie „Derrick“? Ziemlich viel, man muss nur genau hinschauen. Als Frank Witzel bei Youtube eine frühe Folge der ZDF-Kriminalreihe mit dem Titel „Nur Aufregungen für Rohn“ von 1975 sah, blieb sein Blick an der Reproduktion eines Bildes hängen, das im Chaos einer sogenannten Studentenbude an der Wand hängt.
Der Schriftsteller identifiziert es als ein 1948 entstandenes Gemälde von Rudolf Hausner, einem Vertreter des Phantastischen Realismus aus Wien, mit dem hinreißenden Titel „Forum der einwärtsgewendeten Optik“. Zu sehen sind puppenhafte Frauenfiguren und ein Junge im Matrosenanzug in einer bühnenartigen Wüstenlandschaft.
Witzel macht seine Irritation durch das Auftauchen eines mit Techniken der Psychoanalyse spielenden Kunstwerks in einer für belanglos gehaltenen Fernsehepisode zum Ausgangspunkt eines funkelnden Essays, der tief in die deutsche Geistes- und Gesellschaftsgeschichte vorstößt. Rohn hat in dem Zimmer einen Geldboten ermordet, und die Ermittler Derrick und Klein bedrängen den gescheiterten Studenten so lange, bis er sich selbst überführt. Kann das Gemälde ein Indiz sein, etwa für die Haltlosigkeit des Verdächtigen?
Frank Witzel arbeitet mit tollkühnen assoziativen Sprüngen. Sie führen zur Überwachungsarchitektur der Panoptikon-Gefängnisse im 19. Jahrhundert, zur Beschützerfunktion von Beatles-Postern in Jugendzimmern und immer wieder zur Kontaminierung der Nachkriegszeit mit dem Gift der Nazi-Vergangenheit, wofür der Schriftsteller den Begriff „BRD Noir“ prägte.
Derrick-Autor Herbert Reinecker machte als SS-Kriegsberichterstatter Karriere machte und trat später statt eines Schuldbekenntnisses – so Witzel – eine „Flucht ins Allgemeine“ an. Auch der Derrick-Darsteller Horst Tappert war in der SS und kämpfte in der Panzergrenadier-Division „Totenkopf“ in der Sowjetunion, was allerdings erst nach seinem Tod publik wurde.
Das Verdrängen und Vergessen gehörte von Anfang an zur Kollektivmentalität der Nachkriegsdeutschen, aber untergründig rumorten die Verbrechen der NS-Vergangenheit weiter. Ein in den Kunst- und Literaturdebatten nach 1945 gerne benutztes Wort war „Mitte“. Mitte galt als Synonym für Normalität, für Witzel bedeutet Mitte allerdings vor allem Borniertheit: „Da die Mitte das ist, wo ich bin, ist folglich alles, was nicht dort ist, wo ich bin, nicht in der Mitte.“ Die Mitte, so Witzel, steht für eine Normalität, „aus der heraus alles andere pathologisiert werden kann“.
Ein Paradebeispiel dafür ist der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, der 1930 in die österreichische NSDAP eintrat und 1948 den Essay „Verlust der Mitte“ veröffentlichte, der zum einflussreichen Bestseller wurde. Darin wirft er der modernen Kunst vor, das rechte Maß verloren zu haben und attestiert dem modernen „autonomen“ Menschen ein „gestörtes Verhältnis“, weil er ihm in der Kunst nicht mehr diene. Witzel bezieht sich allerdings hauptsächlich auf das Buch „Die Revolution der modernen Kunst“ aus dem Jahr 1955, in dem Sedlmayr den Surrealismus als „Sous-realismus“ verspottet.
Dort findet sich auch eine Szene aus dem Sommer 1942, die Sedlmayr als „unverkennbares Werk des Surrealismus“ beschreibt. In einem russischen Volkspark steht „vor einem stahlblauen Himmel“ eine antikisierende, billig produzierte Skulptur mit abgebrochenem Arm. Auf den Sockel hat ein Rotarmist das Rad eines Autos gelegt und sein rotes Halstuch darum geschlungen. Daneben liegt sein „Abendessen, drei erbeutete Eier“. Sedlmayr sieht in dem Zufallsarrangement ein „Werk nicht schwächer an Erfindung als Dutzende oder auch Hunderte derer, die man in Ausstellungen surrealistischer Maler sieht“. Ein Lob, das polemisch gemeint ist.
Surrealistische Revolverphantasien
Witzel fragt sich, was aus dem sowjetischen Soldaten wurde, der sein Halstuch im Park zurückließ. Konnte er fliehen, wurde er erschossen? Und was hatte Sedlmayr 1942 in einem russischen Volkspark verloren? War er Soldat, Teilnehmer am deutschen Vernichtungskrieg? Gegenüber der scheinbar neutralen Beschreibung des Kunsthistorikers, resümiert Witzel, nehmen sich die provokativen „Revolverphantasien“ der Surrealisten „wie Kindereien“ aus.
Vielleicht löste der Surrealismus bei konservativen Kritikern wie Sedlmayr auch deshalb Verachtung und Wut aus, weil deren Kunst auf die Erfahrungen der Psychoanalyse zurückgriff. Surrealismus und Psychoanalyse, so Witzel, verfolgen ein Ziel, das quer zur Praxis des deutschen Nachkriegs-Wirtschaftswunders stand: Offenlegung statt Verdrängung.
Eine Analogie zur „einwärtsgewendeten Optik“ von Hausners Tableau findet Witzel in Derricks „invertierten“ Detektivgeschichten, bei denen die Zuschauer den Mörder – anders als die Ermittler – zumindest in den ersten Episoden immer schon kannten. Derrick-Schöpfer Herbert Reinecker hat bei seiner Arbeit an den Drehbüchern nach eigener Aussage vor allem eine Frage beschäftigt: „Wie eigentlich wird der Mensch zum Mörder?“.
Zerstreutheit als Tarnung
Invertierte Kriminalgeschichten gab es im Fernsehen bereits vor „Derrick“ und dessen ebenfalls von Reinecker geschriebener Vorgängerserie „Der Kommissar“. Schon ab 1968 hatte Peter Falk in der US-Serie „Columbo“ den gleichnamigen, liebenswürdig zerknautschten Inspektor verkörpert, der die Mörder mit freundlicher Penetranz in die Enge trieb und dabei immer etwas zerstreut wirkte. Was natürlich nichts als Tarnung war.
Die Derrick-Episode „Nur Aufregungen für Rohn“ folgt noch dem Columbo-Vorbild, bei dem der Mörder von Anfang an feststeht. Das fanden viele Zuschauer auf Dauer langweilig, deshalb musste Reinecker sein Konzept ändern. Nach etwa 40 Folgen, ab Mitte der zweiten „Derrick“_Staffel folgten die Filme, so Witzel, „einer Art Mischung aus Whodunit und Howcatchem“.
Frank Witzel arbeitet in seinem Essay selbst wie ein Ermittler, am Ende seiner Beschäftigung mit Derrick und dem Geist der deutschen Nachkriegszeit stellt er sich die Frage: „Habe ich nun in die Objekte meiner Betrachtung etwas hineingelegt oder etwas aus ihnen herausgelesen?“. Natürlich hat er beides getan, und man folgt ihm dabei mit nicht nachlassendem Interesse.
In einem Punkt hat Witzel allerdings unrecht: Er bezeichnet den von Horst Tappert stets überkorrekt gespielten, „wie aus dem Ei gepellten“ (Witzel) Polizeibeamten als Kommissar. Doch Stephan Derrick ist von 1974 bis 1998 in 281 Fernsehspielfolgen nie über den Posten eines Oberinspektors hinausgekommen.
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