Der Triumph der Souffleuse: „Fantômas“ an der Volksbühne
Möglicherweise hat es sich so abgespielt: Irgendwo im Fundus der Volksbühne lagerten Reste einer alten, nie zu Ende gebrachten Castorf-Inszenierung, mit Drehbühnenbild, Hinterzimmerkamera und Videoscreens. Es fanden sich Fragmente aus vorrevolutionären russischen Romanen, amerikanischen Agentenserien und französischen Krimiklassikern. Der Staub lag dick auf den Requisiten, aber René Pollesch, dem wieder einmal nichts einfallen wollte, hat den Krempel restauriert und als Uraufführung herausgebracht, mit dem passenden Titel „Fantômas“.
Das Phantom der Volksbühne. Es ist nicht zu fassen. Das kann man wörtlich nehmen. Es ist nicht zu fassen, wie es das Theater schafft, sich immer wieder selbst zu unterbieten. Bald drei Stunden dauert dieser jüngste und am ersten Abend schon in die Jahre gekommene Pollesch, ohne Pause.
Alle haben Angst. Wovor?
Das ist die einzige Neuigkeit. Pollesch geht in die Breite. Reichlich Zeit, um sich den Kopf zu zerbrechen, ob es hier eine Story gibt, ein Thema, einen Diskurs, irgendeinen Punkt jenseits des Gezappels und Gequatsches. Polleschs Text ist so verquer und nicht zu erinnern, dass die Souffleuse Elisabeth Zumpe bei den Schauspielern mitten auf der Bühne steht – und eigentlich ganz oben auf den Besetzungszettel gehört.
Angst ist da ein wiederkehrender Begriff. Angst wovor? Angst als gesellschaftliche Grundstimmung? Dafür sind die Akteure viel zu indifferent, mal aufgekratzt, mal ausgepumpt. Und Terror: Kathrin Angerer kokettiert mit dem Wort, mit dem Schrecken, dass man sich schämen möchte. Theater muss nicht unbedingt und unmittelbar und immer Bezug nehmen auf das, was in der Welt passiert. Aber man kann schon eine Haltung erwarten, irgendetwas Eigenes, das mehr wäre als diese um sich selbst kreisende, zynische Pollesch-Idolatrie.
Erinnerung an Louis de Funès
„Fantômas“ war der erste popkulturelle Supergangster, erfunden vor dem Ersten Weltkrieg und häufig verfilmt – in den sechziger Jahren mit Jean Marais als sexy Maskenmann und Louis de Funès als hypermotorischem Kommissar. Das übernimmt jetzt Martin Wuttke, mit FBI-Schild, hängender Krawatte und gebücktem Gang. Sein Hauptproblem, seine Passion sind nicht Verbrecher und Spione, sondern Zigaretten. Es wurde auf der Volksbühne schon immer viel geraucht, doch diesmal stellen Wuttke und Benny Claessens einen Rekord auf. Vermutlich ein Anti-Raucher-Programm. Es kann einem schon beim Zusehen schlecht werden.
Agenten und Überläufer
Nebenbei entspinnt sich ziemlich albern eine Art Agentengeschichte. Angerer und Claessens sind angeblich vom KGB, in die USA eingeschleust, potenzielle Überläufer, aber egal. Und auch nicht komisch. Mehr als ein paar Witze über Petersburg und andere russische Städte fällt dem Autor, Regisseur und Intendanten der Volksbühne zu Russland nicht ein.
Und wiederum: Niemand erwartet einen Kommentar zu Putins Terrorkrieg in jedem Bühnengeschehen. Aber flache Sprüche zum Russland-Komplex will man jetzt auch nicht hören. Das ist peinlich bis unanständig, das tut weh und ist weit entfernt von Castorfs Amoralität, die ein provokantes Gesprächsangebot war, das man kaum ablehnen konnte.
Jetzt aber bleibt nur Leerlauf. Und wenn Wuttke plötzlich aufdreht und besten Slapstick zeigt, bei der Beschreibung einer (verdächtigen) Person, fällt noch mehr auf, wie sehr das Haus mit seiner Programmatik und Ästhetik feststeckt. Solche Momente befreien nur kurz aus der Lethargie und Langeweile, in die auch junge Schauspieler wie Sonja Weißer und Campbell Caspary hineingezogen werden. Die Bretterbühne von Leonard Neumann, das Video-Acting mit Jan Speckenbach – alles schon gehabt und so viel besser.
Ein Gespenst ihrer selbst, so zeigt sich die Volksbühne an solchen Abenden. Das sieht nicht wie Zukunft aus. Und auch nicht wie Gegenwart.