Der Iman nervt
„Wir werden dieses Viertel verlassen“, sagt Amina zu ihrer Tochter gegen Ende von „Lingui“, was auf Deutsch nicht ganz korrekt mit „Wir verlassen das Viertel“ übersetzt ist. Der kleine Unterschied ist von Bedeutung. Denn Aminas Satz benennt nicht nur die Notwendigkeit, dem Druck feindlicher Nachbarn zu entgehen. Er steht auch für das Programm des tschadischen Regisseurs Mahamat-Saleh Haroun. Sein Film ist eine Abschiedserklärung nicht nur an einen Stadtteil, sondern an eine ganze von Männern dominierte Weltordnung.
Dabei ist Haroun mit seinem Werk bisher nicht als Feminist hervorgetreten. Seine Filme erzählten seit „Bye Bye Africa“ von 1999 von den Lebenskämpfen junger Männer in seinem Heimatland. 2013 in „Grigris Glück“ ringt der Titelheld um die Mittel für die Behandlung seines Stiefvaters, die einzigen bedeutsamen weiblichen Figuren sind die Mutter und eine befreundete Prostituierte. „Lingui“ nennt der Regisseur nun eine Hommage an seine Großmutter.
Achouackh Abakar Souleymane spielt Amina, die einst vom Vater ihres Kindes und der eigenen Familie verlassen (und schließlich auch von der Schule verwiesen) wurde. Sie und ihre Tochter Maria (Rihane Khalil Alio) haben sich mit dem Straßenverkauf von selbstgefertigten Drahtöfen aus Autoreifen eine mühevolle Existenz aufgebaut. Rückzugsort ist ein Häuschen mit Innenhof, Hündchen und Katze in einem Vorort der Hauptstadt N’Djamena.
Als Amina erfährt, dass die fünfzehnjährige Tochter schwanger ist, droht eine Wiederholung ihrer eigenen Geschichte. Doch Marie möchte das Kind auf keinen Fall austragen, auch wenn Schwangerschaftsabbrüche in der islamischen Gesellschaft verboten sind.
Dokumentarische Einblicke ins Alltagsleben
Nach einem kurzen Konflikt machen sich Mutter und Tochter gemeinsam auf die Suche nach einer Möglichkeit des illegalen Aborts, der unter gesundheitlich sicheren Bedingungen jedoch zu teuer ist. Zusätzlich macht der Imam der örtlichen Moschee Druck, weil er die Frauen zu mehr Präsenz im religiösen Alltag auffordert. Die gönnerhaften Avancen eines älteren Nachbarn weist Amina selbstbewusst zurück.
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Haroun gewährt mit pastosem Kolorit und gemächlichen Schrittes semi-dokumentarische Einblicke in das lokale Straßenleben. Immer wieder brechen Ellipsen den Handlungsfluss auf. Wenn Marie ins Wasser steigt, um sich das Leben zu nehmen, wird der Akt nur angedeutet. Doch ihre Wiederbelebung im Kreis einer Gruppe junger Männer wird in einer rhythmisierten Montage aus Untersicht auf deren schwer atmende Körper so ins Bild gesetzt, dass sie die Vergewaltigung assoziiert, die Marie ihre Schwangerschaft eingebracht hat.
(Bundesweit in den Kinos)
Die beiden Frauen gehen trotz aller Probleme erhobenen Hauptes und eher wortkarg durch den Film, so dass „Lingui“ nie zum grüblerischem Problemdrama wird. „Was will der eigentlich hier, außer uns auf die Nerven zu gehen?“, meint Marie nach dem Hausbesuch des Imams und legt ihrer Mutter schützend den Arm um die Schulter.
Nach und nach finden sie andere, allesamt weibliche Verbündete. Eine Hebamme, die ihre Grenzen überwindet und auch seelischen Rat weiß. Eine Heilerin, die das Vortäuschen von Genitalverstümmelung beherrscht. Und Schwester Fanta, die sich Amina wieder annähert, als sie versucht, ihre Tochter vor einer solchen Beschneidung zu bewahren. Bald wirken die titelgebenden Lingui, die traditionellen „heiligen Bande“ im Tschad, immer mächtiger unter den Frauen. Und bei der großen „Cérémonie Excision“ bejubeln zwar Dutzende von ihnen lauthals den patriarchalen Brauch. Doch wir wissen, das mindestens vier von ihnen eigentlich die gemeinsame Solidarität und das listige Unterlaufen des Rituals feiern.