Gesang und Sinnlichkeit: Zum Tod des Berliner Komponisten Aribert Reimann
Von Alban Berg heißt es, er sei der einzige Zwölftöner gewesen, der mit dodekaphonischen Mitteln so komponierte, als hätte er es ohne getan. Verfahren und Sinnlichkeit standen bei ihm nie im Widerspruch. Das könnte man auch von Aribert Reimann behaupten: Seine Größe bestand nicht zuletzt darin, die aus der Tradition gewachsenen Techniken des 20. Jahrhunderts anzuwenden, ohne damit dem Klangerlebnis in die Quere zu kommen. Webernsche Strenge und impressionistischer Gestus gingen bei ihm mitunter Hand in Hand. Jenseits aller Schulen und Idiome schuf er eine ausdrucksstarke Atonalität, die ganz die seine war.
Vielleicht wusste er aber auch früher als andere, wie sehr Musik eine innere Wahrheit braucht, um der unbarmherzigen Wirklichkeit standzuhalten. 1936 als Sohn eines Kirchenmusiker und einer Altistin in Berlin geboren, waren seine frühen Jahre von den Schrecken der Zeit geprägt. Der frühe Tod des Bruders im Bombenkrieg 1944 ließ ihn nicht mehr los und fand vor allem in die Opern, aufs immer Neue verwandelt, Eingang.
Dem Studium von Klavier, Kontrapunkt und Komposition in Berlin, vor allem bei Boris Blacher und dem Kirchenmusiker Ernst Pepping, folgte ein musikwissenschaftliches Studium in Wien. Seinen Lebensunterhalt verdiente er zunächst als Pianist und Liedbegleiter, unter anderem von Dietrich Fischer-Dieskau. Für den Bariton schrieb er 1978 auch seine Shakespeare-Oper „Lear“.
Enges Verhältnis zur Literatur
Opern brauchen Libretti, Lieder brauchen in der Regel Worte. Über diese Selbstverständlichkeit hinaus dürfte es keinen Komponisten seiner Generation gegeben haben, der ein engeres Verhältnis zur Literatur unterhielt: als passionierter Leser, aber auch in der Verarbeitung von Text abseits bloßer Stoffe. Schon sein Bühnendebüt, ein Ballett im Jahr 1959, stützte sich auf ein eigens geschriebenes Libretto von Günter Grass.
Im großen musikdramatischen Genre kam man ihm immer mit dem abschätzigen Begriff der Literaturoper, der wie die Literaturverfilmung natürlich nicht unproblematisch ist. Franz Kafkas „Schloss“, Federico García Lorcas „Bernarda Albas Haus“ oder zuletzt Maurice Maeterlincks „L’invisible“ aber kannibalisierten ihre Vorlagen nicht, sondern verliehen ihnen einen tönenden Eigensinn.
Professur für das Lied
Dennoch war seine Domäne das zeitgenössische Lied. Von 1983 bis 1998 vertrat er es auch mit einer Professur an der Berliner Hochschule der Künste. Reimann zeigte noch einmal, wie die einander im 20. Jahrhundert fremd gewordenen Gattungen von Musik und Dichtung zueinander finden könnten. Denn in dem Maß, in dem sich die Klangsprache atomisiert hatte und als bloßer Stimmenträger verweigerte, war die Lyrik ins rein Klangliche vorgestoßen. Mit modernsten Mitteln nahm er sich geradezu altmeisterlich Gedichten von Paul Celan, James Joyce, Sylvia Plath und Emily Dickinson an: in größerer und kammermusikalischer Besetzung, manchmal auch für Stimme solo.
Die Auszeichnungen für sein Lebenswerk sind Legion, auch der Ernst von Siemens Musikpreis, die höchste Würde, die die Musikwelt zu vergeben hat, befindet sich darunter. In seinem Schaffen war er unermüdlich, sowohl im Wissen, dass die Zeit für Schöpferisches endlich ist, wie in der Überzeugung, dass Inspiration dabei überschätzt wird.
Noch als Student war er einmal mit leeren Händen bei seinem Kompositionslehrer Boris Blacher aufgetaucht und gestand verschämt, dass ihm nichts eingefallen sei. Blacher sagte nur: „Komponieren mit Inspiration ist keine Kunst – ohne, da fängt das Komponieren erst an!“ Am Mittwoch ist Aribert Reimann im Alter von 88 Jahren in Berlin gestorben.