Rudolf Buchbinder : Tema con Variazioni
Es gibt die Theorie, dass Vergangenheit und Zukunft gar nicht existieren, dass sie Einbildungen der menschlichen Phantasie sind und wir tatsächlich in einem einzigen Augenblick einer unendlichen Gegenwart leben, in ständiger Gleichzeitigkeit von allem. Ein bisschen muss man daran denken bei Rudolf Buchbinders „Diabelli Project“, einem der vielleicht interessantesten Früchte des Beethoven-Jahres 2020, das als CD erschienen ist und das der österreichische Pianist jetzt im Kammermusiksaal vorgestellt hat.
Die 1820er Jahre schnalzen ins Heute
Mühelos schnalzen die 1820er Jahre ins Heute: Buchbinder hat wie einst Anton Diabelli die prominentesten Komponisten der Jetztzeit um je eine Variation auf den berühmt-berüchtigten Walzer gebeten, den Beethoven bekanntlich ob seiner harmonischen Phrasendrescherei einen „Schusterfleck“ genannt hat – ein Zorn, der musikgeschichtliche Folgen hatte, entstand doch daraus mit den 33 Diabelli-Variationen eines der gewichtigsten Werke der Klavierliteratur überhaupt.
Werktitel sind ja häufig irreführen, hier allerdings ist nomen omen: Lera Auerbach beschwört in „Diabellical Waltz“ ein dämonisches Nachtstück herauf, voller dramatischer, schroffer Dynamikunterschiede. Brett Dean beginnt „con fuoco“, mit krassen Akkorden, die alsbald in ein langgestrecktes Tongespinst münden. Christian Jost richtet mit „Rock it, Rudi!“ eine an Eindeutigkeit nicht zu überbietende Aufforderung an den Pianisten, und genauso klingt dann seine Variation auch.
Tan Dun, Oscarpreisträger für den Soundtrack zu Ang Lees „Crouching Tiger, Hidden Dragons“ nimmt in „Blue Orchid“ nur die tragenden Töne von Diabellis Walzers, zelebriert sie wie Tropfen, lässt sich viel Zeit. Jörg Widmann bleibt dem Ursprungswalzer erst scheinbar sehr treu, bevor er abbiegt, als würde die Komposition ausrutschen, und irgendwann erhebt auch Strauß‘ Radetzky-Marsch sein Haupt – was vollends in Beethovens Tradition liegt, der ebenfalls andere zitiert, Bach und natürlich vor allem Mozarts „Don Giovanni“ in der 22. Variation.
Buchbinder spielt das, wie man es von ihm kennt und liebt: ohne prätentiöse Mätzchen, angenehm schnörkellos, prägnant, direkt – und dabei doch äußert wandelbar, sich chamäelonartig dem jeweiligen Gestus der Variation anschmiegend. Auch in den Variationen von Franz Schubert, Franz Xaver Mozart oder Karl Czerny.
Das Reizvolle am „Diabelli Project“: Es ist ein Tripelpaket, enthält nicht nur die Neukompositionen von heute, sondern auch ein Auszug aus den 50 anderen Einsendungen teils sehr bedeutender Tonkünstler, die Diabelli damals erhielt. Und nach der Pause dann natürlich: der Parnass, Beethovens 33 Variationen. Drei Erkenntnisse: Beethoven bleibt, schon aufgrund der schieren Masse, unerreicht. Trotzdem lässt sich aus Diabellis „Schusterfleck“ auch heute noch beeindruckend viel schöpferische Kraft gewinnen. Und Variationen als musikalische Form können, wenn sie gut sind, nach wie vor eine fast magische Anziehungskraft entwickeln. Vielleicht gibt es ja wirklich keine Vergangenheit und Zukunft, sondern nur Gegenwart.
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