Die unsichtbare Kraft, die alles bewegt
Nein, ins Wasser ist die Eröffnung nicht gefallen, aber sturmzerzaust war sie denn doch. Jedenfalls fehlten die avisierten Gäste aus dem Europa nördlich von Prag, über das in der vorvergangenen Woche das doppelte Tief hinwegfegte. Nun herrscht eitel Sonnenschein in Prag, der Krieg in der Ukraine hat noch nicht begonnen.
Die neue Kunsthalle erweist sich an den ersten beiden Besuchertagen am 22. und 23. Februar zudem als der erhoffte Besuchermagnet – zuerst für die Prager und Pragerinnen selbst, die begierig sind zu sehen, was da für geschätzte 35 Millionen Euro aus einem alten, längst außer Betrieb gesetzten und irgendwie am Straßenrand dahindämmernden Umspannwerk geworden ist.
Die Station Zenger, so ihr früherer Name, diente der Versorgung vor allem des elektrischen Nahverkehrs der tschechischen Metropole und repräsentierte zur Zeit ihrer Erbauung Mitte der 1930er Jahre den Stand der Technik.
Der Lichtkünstler Zdenek Pešánek, damals ein gefragter Avantgardist, sollte das in gedämpftem Neoklassizismus seiner historisch gewachsenen Umgebung angepasste Bauwerk mit vier Lichtskulpturen schmücken, die er zuvor im tschechoslowakischen Pavillon der Pariser Weltausstellung 1937 vorführte. Leider gingen die Skulpturen verschütt; die Weltgeschichte, die 1938/39 unbarmherzig über das in jeder Hinsicht hochentwickelte Land im Herzen Europas hereinbrach, wird das ihre dazu beigetragen haben.
Mit Pešánek, so erläutert es Kuratorin Christelle Havranek im Gespräch, hat die neugeschaffene Kunsthalle, die das deutschsprachige Wort als Namen führt, ihre für den Start so wichtige lokale Anbindung. Alles andere aber ist international auf Topniveau, dafür hat Havranek im Verbund mit Gastkurator Peter Weibel gesorgt.
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Die Erstausstellung unter dem Titel „Kinetismus“ – noch ein deutschsprachiger Begriff – will „100 Jahre Elektrizität in der Kunst“ nachverfolgen, beginnend mit den ersten, noch auf das neue Medium des Films konzentrierten Projekten eines Man Ray oder Hans Richter, aber auch des später mit „Berlin – die Sinfonie der Großstadt“ berühmt gewordenen Kameramannes Walter Ruttmann. Das allererste kinetische Werk jedoch, so Havranek, sei Naum Gabos „Stehende Welle“ von 1919, ein durch gleichmäßige Schwingung als bauchige Skulptur erscheinender Metallstab.
László Moholy-Nagy drehte einen fünfminütigen Film mit seinem Licht-Raum-Modulator, der selbst nur als Replik erhalten ist, im Film aber als das damals so neuartige Requisit erhalten blieb. Viking Eggeling schuf abstrakte Filme, Marcel Duchamp ließ seine „Rotoreliefs“ kreisen, wie überhaupt die Abstraktion am Beginn des Films als künstlerischem Medium steht – die bloße Abbildfunktion beließen die Künstler in der Zuständigkeit der kommerziellen Filmemacher.
Die Ausstellung orientiert sich eng am Kriterium der Elektrizität, verfolgt im Weiteren die Einbeziehung oder besser, die elektrische Erregung von Bewegung, Licht und Farbe sowie Ton, so dass aus der Gegenwartskunst so unterschiedliche Werke wie Christina Kubischs Installation von geräuschinduzierenden Drähten oder aber eine von Ventilatoren in der Schwebe gehaltene Endlosschleife aus Magnettonband von Silvias Kempinas beieinander stehen.
An der “Kunstwand” können sich Besucher selbst als Zeichner betätigen
Im später als Auditorium zu nutzenden Untergeschoss ist eine Videoarbeit des vielbeschäftigten William Kentridge zu sehen, „Notes Toward a Model Opera“ von 2015, die auf witzige Weise die chinesische Kulturrevolution nachempfindet, unterlegt von den schmissigen Klängen einer Blechbläsergruppe, die „Völker, hört die Signale“ intoniert.
Im obersten Stockwerk dagegen ist eine „Kunstwand“ aufgebaut, an der sich die Besucher als Zeichner auf einer elektronischen Tafel betätigen können: Beuys’ Diktum, dass jeder ein Künstler sei, wird hier zur Realität. Und lässt erahnen, dass die ungeheuren Möglichkeiten, die Digitalisierung und Computer heutzutage bieten, den herkömmlichen Kunstbegriff tatsächlich in ein allgemeines Do-it-Yourself auflösen könnten.
[Die Erstausstellung in der neuen Prager Kunsthalle ist bis zum 20.6. zu sehen, Katalog bei Hatje Cantz. Weitere Informationen unter www.kunsthallepraha.org]
Alle drei, höchst unterschiedlich dimensionierten Etagen der im Inneren völlig neu gestalteten Trafo-Station sind mit „Kinetismus“ in mehr oder minder chronologischer Abfolge der rund 90 gezeigten Werke belegt. Den Umbau hat das Prager Architekturbüro Schindler Seko mit grobkörnigem Beton recht wuchtig gestaltet, was im Wechselspiel mit den leuchtenden, blinkenden oder flirrenden Installationen durchaus stimmig wirkt.
Ob sich der raue Beton ebenso gut für klassische Hängeware wie Gemälde oder Fotografien eignet, muss sich erst noch erweisen.
Gezeigt wird auch, wie sich die Verbreitung der Elektrizität auf das Gewebe der Stadt Prag auswirkte
Ebenso, ob das Konzept einer privat finanzierten, für den laufenden Betrieb auf Einnahmen aus Tickets, Shop und Café angewiesenen Institution aufgeht. Für Prag ist das ein Novum. Die Pudil Familienstiftung, deren Finanzkraft wohl aus dem Immobiliensektor herrührt, setzt jedenfalls ein Zeichen – und einen Maßstab, was den hochprofessionellen Auftritt der Kunsthalle anbelangt.
Allerdings ist deren Lage, wenige Schritte von einer Metro-Station entfernt. Und auf der anderen Seite der vielbefahrenen Straße, die sich im weiteren Verlauf seitlich den Burgberg hinaufschlängelt, mündet der Treppenweg vom Hradschin herab, den unzählige Touristen nehmen.
In den Tagen nach der Eröffnung dominieren jedoch die Pragerinnen und Prager. Ihnen wird mit einer zusätzlichen, stadtgeschichtlichen Ausstellung zum Umspannwerk gezeigt, wie umwälzend sich die Verbreitung von Elektrizität auf das Gewebe der Stadt auswirkte. Nicht zuletzt besitzt Prag bis heute wichtige Zeugnisse der Architektur der Zwischenkriegszeit, als beleuchtete oder ganz in Licht aufgelöste Fassaden bei Geschäftsbauten Mode wurden. Da genau setzt die Kunsthalle an, bei der Faszination von Licht und Bewegung, die sich der unsichtbaren Elektrizität verdankt. Ohne sie geht nichts mehr, und das seit 100 Jahren.