Das Grauen von Charkiw

Es ist der 27. Februar, drei Tage nach Beginn der russischen Ukraine-Invasion, als auch in Charkiw russische Panzer einrollen. Sergej Gerassimow sieht sie noch nicht in seiner Straße, er hört es von einem Freund. Oder von seiner Tochter, die sagt, sie habe einen Panzer gesehen, der „abgehauen“ sei.

Und er schaut sich Videos an mit verwirrten russischen Soldaten, die wider Erwarten nicht mit Blumen, Brot und Salz empfangen, sondern bekämpft werden. „Sie sehen wirklich schlampig, aber entspannt aus. Sie wissen nicht, was auf sie zukommt. (…) Die Eindringlinge werden durch die Stadt gejagt wie Guy Montag aus ,Fahrenheit 451’. Es dauert sehr lange, bis sie sterben.“

Gerassimow, der 1964 in Charkiw geboren wurde, hier studiert hat und heute noch lebt, schreibt seit Kriegsbeginn ein Tagebuch. Passagen daraus erschienen zunächst unter anderem in der „Neuen Zürcher Zeitung“. Mit seiner Frau, seiner Tochter, deren Freund sowie fünf Katzen und einem Hamster wohnt er gerade in zwei Zimmern im dritten Stock eines Hochhauses im Zentrum von Charkiw.

Obwohl die Russen schnell wieder aus der Stadt vertrieben wurden, wird Charkiw seitdem Tag für Tag bombardiert und mit Raketenangriffen überzogen, bis heute. Gerassimow notiert, welche Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten und öffentlichen Einrichtungen neben den normalen Wohnhäusern zerstört wurden, zum Beispiel soll ein Fünftel aller Schulen in Trümmern liegen.

Gerassimow ist in Charkiw geboren und lebt hier weiterhin

Auch das Opernhaus ist beschädigt, genauso das Schwimmbad, in dem er schwimmen gelernt hat, und der Zoo. Am 9. März konstatiert Gerassimow: „Noch vor zwei Wochen war Charkiw so schön wie ein fein gearbeitetes Juwel. Jetzt ist die Stadt ein Grauen.“

Er erzählt von den Menschen in seiner Umgebung, die versuchen, dieses Grauen heil zu überstehen, die krank werden, die sich, wie er auch, an die Angriffe gewöhnen. Beispielsweise gehen am 15. April, einem schönen Frühlingstag, viele Menschen in der Stadt spazieren, „sie wirken bequem und entspannt, vielleicht auch ein bisschen verrückt.“

Das Stadtbild wird neben den vielen Ruinen von Menschenschlangen vor den Läden geprägt, insbesondere vor Apotheken und den mit Hilfsgütern ausgestatteten Nova-Poschta-Läden. Diese Schlangen werden nur noch in Zeiteinheiten gemessen, zwei Stunden lang, zwei Tage lang, und haben ihren jeweils eigenen Charakter, demokratisch und respektvoll, autoritär oder psychotisch.

Gerassimow überlegt, die Stadt zu verlassen. Er weiß aber, dass das nächstgelegene Poltawa überfüllt ist und es sowieso keinen sicheren Ort in der Ukraine gibt, „in den relativ sicheren Orten sind die Menschen wie Sardinen zusammengepfercht. Wir wissen also nicht, was wir tun sollen.“

Russisch sprechen – und gegen die Russen kämpfen

Trotz der prekären Situation macht er sich Gedanken über seine Beziehung zu Russland, wo er im Grunde aufgewachsen ist und noch drei Cousins hat, die vermutlich auch überall Nazis in der Ukraine sehen. Er denkt über Putinophilie und Russismus nach, über die furchtbare und furchtbar effektive Propaganda der Russen.

Und über den Nationalismus der Ukrainer: „Die meisten Menschen in Charkiw (…) sprechen Russisch, während sie gegen die Russen kämpfen. Keiner findet das seltsam. Wir kämpfen für Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Würde…(…) Wo gibt es in unserem Kampf Nationalismus? Er ist die globalste und universellste Sache, die ich mir vorstellen kann.“

„Feuerpanorama“ hat der deutsche Verlag Gerassimows Kriegstagebuch genannt. Das wirkt unglücklich farbig und atmosphärisch. Doch in seiner Gesamtheit sind die Einträge des ukrainischen Schriftstellers schon auch ein dunkel schillerndes Panorama, ein aus Beschreibungen, Reflexionen und Erinnerungen bestehendes Tableau.

Bei aller Schnelligkeit, mit der Gerassimow seine Texte verfasst hat, erinnert „Feuerpanorama“ passagenweise an Serhij Zhadans Charkiw-Liebeserklärung „Mesopotamien“, entbehrt nachvollziehbarerweise allerdings jeder Leichtigkeit. Das Tagebuch endet am 18. April, besitzt jedoch Gültigkeit bis heute.

Die Kämpfe um Charkiw gehen unvermindert weiter, die Zerstörung schreitet fort. Sergej Gerassimow jedoch bleibt seiner Heimatstadt treu, und er schreibt. Den Kriegswahnsinn verstehen kann er nicht: „Manche Dinge entziehen sich der Logik.“