Ein Jahrhundert durchforsten
Was für ein Held, dieser Bernard Casmin. Angestellter eines Tuchhändlers, dann Gehilfe eines Antiquars, schließlich Vertreter für Küchengeräte (Kaffeemühlen, ganz aus Glas, auch Schälmaschinen und Kühlschränke).
Bernard ist ein angenehmer und ehrbarer Mensch. Einer, der keinem etwas antut und einer, dem man nichts antut. Diese Verkörperung der Biederkeit lebt in der französischen Provinz, in den Ardennen vermutlich, nahe der belgischen Grenze.
Dort passiert eigentlich: nichts. Bernard sitzt in seinem Büro. „Er betrachtete die Dielen, wie um dort eine Antwort zu lesen. Die Sonne hatte das vierte Dielenbrett verlassen (vom Fenster aus gezählt).“ Als die Welt am stillsten steht, tritt auf: Estelle Jarraudet.
Anne Weber und Peter Handke sind Fans
Was dann geschieht, klingt wie der Beginn einer großen Liebe: Sprachlosigkeit, Zittern am ganzen Leib, zugeschnürte Kehle. Ist es aber nicht. Bernard möchte der anmutigen jungen Frau gern auf der Stelle die „Schläfen einschlagen.“ Später konstatiert er, es sei etwas „sehr Einfaches passiert“, nämlich „eine Art umgekehrte Liebe auf den ersten Blick.“ Fortan muss Bernard mit seinem abgrundtiefen und scheinbar völlig unmotivierten Hass zurande kommen.
Der französische Schriftsteller André Dhôtel, dem wir diese sonderbare Geschichte mit dem Titel „Bernard der Faulpelz“ aus dem Jahr 1952 verdanken, ist bei uns weitgehend unbekannt – bis auf ein paar Fans. Die aber haben Format: Die Deutsche-Buchpreisgewinnerin Anne Weber hat den Roman übersetzt, der Literaturnobelpreisträger Peter Handke liefert ein hymnisches Vorwort.
Dhôtel, im Jahr 1900 geboren, hat als Studienrat unterrichtet und seit Ende der 1930er im Jahrestakt Bücher geschrieben. Auf Deutsch gibt es immerhin seinen erfolgreichsten Roman, mit dem er 1955 in den französischen Kanon einging, „Das Land, in dem man nie ankommt“.
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Meist stehen die über drei Dutzend Romane jedoch im Jugend- oder Heimatbuchregal. Das wird dem gelegentlich von Depressionen heimgesuchten Dhôtel, der auch Zeitschriftengründer war und sich in mehreren Büchern mit Arthur Rimbaud beschäftigt hat, natürlich nicht gerecht.
Neuerdings wird André Dhôtel gern den Natur-Interessenten zugeschlagen und aus ökologischer Perspektive gelesen. Da ist etwas dran: Der Erzähler der Bernard-Geschichte ist mit einer beachtlichen Jahreszeitsensibilität ausgestattet – was immer sich in diesem Buch abspielt, scheint von natürlichen Rhythmen getragen.
Und Landschaften, die der sogenannte Held durchstreift, Wiesen und Wälder, sind keine Kulisse, sondern Bestandteil einer schwer deutbaren Handlung. Doch je präziser die Dinge beschrieben werden, desto unheimlicher werden sie. Dhôtel „durchforstet“ sein Jahrhundert mehr als dass er es durchforscht, wie Peter Handke treffend bemerkt.
Und die Geschichte? Nun, Bernard wird durch seine verwirrenden Gefühle zu Estelle – die sie in schöner Symmetrie erwidert – für die Gesellschaft immer untauglicher. Verwandte, die ihn zunächst aufgenommen hatten, lassen ihn fallen, ein Freund aus dem Café Terminus (alle Namen haben hier eine Bedeutung –die Frage ist bloß: welche genau?) zeigt ihm die kalte Schulter. Nur bei einer zwielichtigen Truppe gescheiterter Existenzen ist er noch willkommen. Doch die bürgerliche Gesellschaft, die ihn aus ihrer Mitte verdammen will, interessiert Bernard gar nicht.
Ein Faulpelz? Eher ist unser Mann grundsätzlich unambitioniert. Kein Verweigerer, der sein Melville’sches „I would prefer not to“ vor sich hertragen würde, sondern eher einer, der nach einer Nische sucht: nach einem Ort, an dem er vor übler Nachrede, Heuchelei, Erpressungen und allen Intrigen des Sozialen geschützt wäre.
Intrigen allerorten
Die Intrigen aber, die allenthalben um Bernard gesponnen werden, nehmen aufs Schönste das Wort „intrigue“ auf, die französische Bezeichnung für eine Romanhandlung. Diese Handlung gibt es, durchaus. Dabei spielt ein Bruder Estelles eine Rolle, ein waldgieriger Nachbar, Madagaskar und ein zugefrorener Fluss. Es gibt sogar eine finale Volte, die das ganze Geschehen auf einer Oberfläche plausibel erscheinen lässt. Aber nur auf der Oberfläche. Darunter siedeln Verblüffung und Verwunderung.
Um mit einer Figur zu sprechen, von der es immerhin heißt, sie ziehe einen Schluss: „Was mich angeht, so verstehe ich gar nichts mehr.“ Ja, was war denn das? Natürlich, es war eine Geschichte. Aber eine, die in biederstem Setting das Geschichtenerzählen selbst zerlegt.
[André Dhôtel: Bernard der Faulpelz. Roman. Mit einem Vorwort von Peter Handke. Übersetzt von von Anne Weber. Matthes & Seitz, Berlin 2022. 282 S., 24 €.]
Dhôtels Parteigänger preisen ihn für seine Gegenwärtigkeit – als Gegenteil von Aktualität. Und für seine Unzugehörigkeit zu den zeitgenössischen ästhetischen Bewegungen. Das ist gewiss nicht falsch. Doch die verhandelte Grundsätzlichkeit (letztlich geht es um nicht weniger als den Sinn des Lebens) und das Ausgeliefertsein an ein Schicksal, das keine Wahl lässt, setzt ihn in ein Verhältnis zum Existenzialismus jener Jahre bei Camus oder Sartre.
Die Absurdität der Dialoge beschwört das Theater Ionescos oder Becketts herauf. Das Interesse für nicht rationale Hintertreppen des Tages erinnert an die Ausläufer des Surrealismus. Und die Demontage des Geschichtenerzählens und psychologisch glaubhafter Figuren steht Anfang der 1950er Jahre in Gestalt des Nouveau Roman mit Autoren wie Alain Robbe-Grillet oder Michel Butor in den Startlöchern.
Dass André Dhôtels Prosa nicht vom Mond gefallen ist, sondern sich aus verschiedensten Impulsen ihrer Zeit nährt, schadet ihrer Einzigartigkeit keineswegs. Noch viel weniger aber wird damit das Vergnügen ihrer Lektüre gehemmt. Steffen Richter