Odettes Gesichtszüge
Neulich in der Gemäldegalerie in Berlin, nach dem Studium der kleinen, vergleichenden Hockney–Ausstellung: Wer schaut einen da in einem der vielen sonstigen Räume der Gemäldegalerie so gänzlich unvermutet und doch naturgemäß (weil im Besitz der Staatlichen Museen) an? Sandro Botticellis „Venus“.
Und schnell ist man bei diesem verhangenen, traumverlorenen, traurig-zarten, womöglich niedergeschlagenen und kummervollen Blick von Botticellis Frauenfigur bei Prousts Frauenfigur Odette und sieht sie vor sich, so wie ihr Verehrer und späterer Ehemann Charles Swann.
Die Liebe von Swann wird nämlich ultimativ entfacht, als dieser eine Ähnlichkeit in den Gesichtszügen Odettes mit Botticellis Sephora entdeckt. Sephora ist die Tochter Jethros, sie ist zu sehen auf einer der drei Fresken Botticellis in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan, „Moses und die Töchter des Jethro“. Swann ist fasziniert von Odettes „müden und verdrossenen“ Blick.
Die Kunst kommt vor der Liebe
Später stellt er sich, da ahnt er, dass er von ihr betrogen wird, da quält ihn schon die Eifersucht, eine Reproduktion dieses Freskos auf seinen Arbeitstisch: „Er bewunderte die großen Augen, das zarte Gesicht, das auf die Unvollkommenheit der Haut schließen ließ, das Haar, das in herrlichen Locken an den müden Wangen niederglitt, und in dem er das, was er bislang im rein ästhetischen Sinne schön gefunden hatte, auf die Vorstellung von einer lebenden Frau übertrug, machte er körperliche Vorzüge daraus, die in einem Wesen vereinigt zu finden, das er besitzen konnte, er sich beglückwünschte.“
Die Kunst, sie triumphiert also über die Liebe, ein Leitmotiv von Proust, sie hat sie ermöglicht, hält sie am Leben; später ist sie der Ausgleich für viel Ungemach. So passiert es dem Proust-Leser, dass ihm sich in vielen der Frauenfiguren des Florentiner Renaissance-Malers und in ihren melancholischen Bewegungsrhythmen immer wieder Odette de Crécy spiegelt.
Botticellis Frauen legen sich in der Fantasie nicht nur sowieso über die von Ornella Muti gespielte Odette in Volker Schlöndorffs „Unterwegs-zu-Swann“-Verfilmung, sondern auch über ein Porträt von Odette in der „Recherche“.
Gedankenvoller Blick, müde Züge
Dieses Porträt hängt bei einem Verwandten des Erzählers, Onkel Adolphe. Odette ist hier die berühmte „Dame in Rosa“, für die für Proust wiederum wiederum ein Gemälde des Malers Julius Leblanc von der Prostituierten Lauré Hayman Modell gestanden hatte.
Als Swann und Odette verheiratet sind und eine Tochter haben, Gilberte, scheint Swann die Reproduktion ersetzt zu haben durch „eine ganz einfache kleine Daguerreotypie (… ), auf der Odettes Jugend und Schönheit, die sie damals noch nicht entdeckt hatte, ganz zu fehlen schienen.“
Trotzdem ist in „Schatten junger Mädchenblüte“ abermals von dem „gedankenvollen Blick und den müden Zügen“ die Rede, die Swann an Odette so schätzt, von der „Haltung, die zwischen Schreiten und Ruhe zögerte, eine Anmut, die eher Botticelli entsprach.“
Odette dagegen will von dem Maler nichts wissen und rümpft die Nase über Swanns von Botticelli inspirierte Geschenke: ein orientalischer Schal in blau und rosa, der an den der Jungfrau Maria auf dem „Magnificat“-Gemälde erinnert; und auch ein dem „Primavera“-Bild nachempfundenes Arrangement aus Maßliebchen, Kornblumen, Vergissmeinnicht und Glockenblumen ist für Odette nur ein Anlass, unschön mit der Stirn zu runzeln.