Im Osten, wo mein Herz schlägt: Friedenspreis für Anne Applebaum
Seinen Friedenspreis vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels in friedlichen wie in kriegerischen Zeiten. Doch kaum könnte die diesjährige Auszeichnung unmittelbarer auf das gegenwärtige Kriegsgeschehen stoßen als mit der Wahl von Anne Applebaum. Ihre Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche zum Abschluss der Buchmesse im Oktober wird, so viel lässt sich vorhersagen, den Krieg im Osten Europas unübersehbar in die Mitte rücken.
Dem Krieg, den Russlands Putin gegen die Ukraine entfesselt hat, ist Anne Applebaum nahe. Sie lebt seit zwei Jahrzehnten in Polen, verheiratet mit dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski. Ihren Weg wählte sie bereits mit dem Studienfach, der russischen Geschichte und Literatur in Yale.
Über ihre 1988 begonnene Tätigkeit als Osteuropakorrespondentin hinaus wurde sie zur Historikerin. Gleich ihr erstes, sogleich mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Buch machte sie 2003 zu einer der führenden Autoritäten zur russisch-sowjetischen Geschichte.
Angelsächsische Erzähltradition
„Der Gulag“ wagt eine Gesamtdarstellung dieses fürchterlichsten Kapitels der Sowjetvergangenheit. Nicht, dass es dazu nicht umfangreiche Literatur gegeben hätte; doch in bester angelsächsischer Tradition gelang es Applebaum, die Darstellung der Fakten mit der Erzählung einzelner Schicksale zu verweben, um so die allumfassende Dimension des stalinistischen Terrors vorstellbar zu machen.
Von da kam Applebaum, die 2008 als Fellow der American Academy in Berlin weilte, zum nächsten Horrorkapitel der sowjetischen Geschichte: dem Holodomor. So wird die politisch verursachte Hungersnot der Jahre 1932/33 in der Ukraine bezeichnet, als Völkermord durch Hunger.
„Stalins Krieg gegen die Ukraine“ nennt Applebaum ihr Buch „Roter Hunger“ von 2017 (dt. 2019) im Untertitel, und so griffig diese Formulierung ist, weist sie doch unmittelbar in die Auseinandersetzungen um den Charakter dieser staatlich forcierten Katastrophe, die zwischen fünf und sieben Millionen Menschen Hungers sterben ließ, insgesamt aber weit über zehn Millionen Leben forderte.
Hunger als Stalins Waffe
Eingebettet war der Hunger in das ganze Repertoire der Stalinschen Repression von Zwangskollektivierung und „Entkulakisierung“ der Bauernschaft. Und, so ist es in der heutigen Ukraine Konsens, mit dem tieferen Motiv der Vernichtung der Ukraine als Nation. Doch die Hungersnot wütete auch im russischen Kernland sowie – anteilig nach Opferzahlen sogar noch schlimmer – in Kasachstan.
Mit der Kontroverse um den dezidiert anti-ukrainischen Charakter der Politik Stalins ist die aktuelle Politik erreicht und die Frage nach der nationalen Identität der Ukraine. Entsprechend heißt es in der Begründung des Stiftungsrates zur Preisvergabe: „Historiographische Erkenntnisse mit wacher Gegenwartsbeobachtung zu verbinden, das gelingt Anne Applebaum in ihren Veröffentlichungen über autokratische Staatssysteme und deren international wirkende Netzwerke.
In einer Zeit, in der die demokratischen Errungenschaften und Werte zunehmend karikiert und attackiert werden, wird ihr Werk zu einem eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden.“
Hoffnung trotz Tragödien
Das schließt, wenn man so will, an das Nachwort Applebaums zu ihrem Ukraine-Buch an, wo sie schreibt: „Die Geschichte enthält Hoffnung ebenso wie Tragödien. Letztlich wurde die Ukraine nicht vernichtet. Die ukrainische Sprache ist nicht verschwunden. Auch der Wunsch nach Unabhängigkeit ist nicht verschwunden – ebenso wenig wie der Wunsch nach Demokratie, nach einer gerechten Gesellschaft oder nach einem ukrainischen Staat, der wirklich die Ukrainer repräsentiert. (…) Als sie wählen durften, stimmten sie 1991 mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit.“
Diese Perspektive, die einer Gegenwart und Zukunft in Unabhängigkeit und Demokratie, ist es, in die mit zahlreichen Preisen und Professuren ausgezeichnete Anne Applebaum ihr Werk gestellt hat, und die mit dem Friedenspreis ihre sichtbare Anerkennung auch hierzulande findet.
In ihrem Buch „Die Verlockung des Autoritären“ von 2020 untersucht Applebaum die Krise des westlichen Liberalismus unter dem Anwachsen autoritärer Strömungen. Ihr Werk erinnert daran, dass nur mit der Vergegenwärtigung der Geschichte ein wirklicher Friede möglich wird. Darin liegt Anne Applebaums bleibender Verdienst.