An vorderster Front im Informationskrieg
Cole Turner weiß nicht mehr, was er glauben soll: Eben war er noch als verdeckter FBI-Agent auf einer Flat Earth Convention, und nun hat er mit eigenen Augen Dinge gesehen, die es eigentlich nicht geben kann: Ein Video der Mondlandung in einem Studio und eine riesige Eismauer, die die Erdscheibe umgibt. Was eben noch eine Spinnerei aus dem Internet war, ist plötzlich Realität geworden.
Prompt wird Turner vom „Department of Truth“ zwangsrekrutiert, einer amerikanischen Geheimorganisation, die versucht, solche „Tulpas“ zurückzudrängen: Dabei handelt es sich um ein theosophisches Konzept, laut dem fiktive Ereignisse, Personen oder Gegenstände real werden können, wenn nur genügend Menschen an sie glauben.
„Der kollektive Glaube formt die Welt – also ist alles ein bisschen wahr“, sagt Turner lakonisch zu seinem neuen Arbeitgeber. Und so entbrennt ein Kampf um das, was in jedem Krieg als erstes stirbt: Die Wahrheit.
In seinem konstruktivistischen Verschwörungsthriller „The Department of Truth – Das Ende der Welt“ (Übersetzung Kathrin Aust, Splitter, Band 1: 144 S., 22 €) greift Autor James Tynion IV („Something is killing the Children“) zahlreiche aktuelle und alte Verschwörungserzählungen auf, die vor allem in den USA eine bedrohliche Macht besitzen: QAnon, die „Satanic Panic“, die Reptiloiden, den Mord an John F. Kennedy oder das angeblich gestellte Schulmassaker von Parkland.
Auch nach Trump und seinen „alternativen Fakten“ befindet sich ein beträchtlicher Teil des Landes in einem regelrechten Informationskrieg, der immer wieder auch reale Opfer fordert.
Kleckse, Streifen, Verzerrungen
Zeichner Martin Simmonds („Dying is easy“) hat das düstere Sujet kongenial umgesetzt: Cole Turner irrt durch urbane und expressionistische Bilder, die trotz zahlreicher Filter und Effekte nie überladen wirken. Beinahe jedes Bild ist mit Klecksen, Streifen oder Verzerrungen akzentuiert; die fiebrige Optik des Comics vermittelt Turners Paranoia gegenüber einer fragmentierten Realität, deren unverstellte Natur nicht mehr direkt zugänglich ist.
So treffend der Comic das Gefühl einfängt, dass die Wahrheit in einem Sumpf von Verschwörungserzählungen und Fake News zu versinken droht, so wenig geht er auf die Ursachen dafür ein: Die Flut an Lügen, die sich im Comic durch ihre schiere Masse zur Wirklichkeit verfestigen, wirken wie eine Naturgewalt – doch das sind sie nicht.
[James Tynions „Something is killing the Children“ war im vergangenen Jahr einer der Comicfavoriten der Tagesspiegel-Leser:innen – mehr dazu hier.]
Ebenso ohnmächtig wie plump erscheint daher auch die Gegenbewegung, die in einer reaktionären Geheimorganisation besteht, die selbst aus einer Verschwörungserzählung stammen könnte.
Es braucht keine esoterischen Tulpa-Manifestationen, um zu begreifen, dass aus Lügen Realität werden können: Dass Verschwörungsgläubige die Eltern der getöteten Kinder des Parkland-Massakers terrorisieren, weil die Getöteten angeblich Schauspieler:innen gewesen seien, hat sich der Comic ebenso wenig ausgedacht, wie den rechten Youtuber Alex Jones, der die Eltern als Teil der Verschwörung darstellte. Wie sagte Karl Popper so treffend: „Lasst Theorien sterben statt Menschen.“