Die Boys vom Kottbusser Tor

Mit ihren Händen in den Jackentaschen laufen elf Jugendliche durch die Straßen von Berlin-Kreuzberg. Die einen blicken geradewegs in die Kamera, die anderen zur Seite oder auf den Boden. Sie wirken selbstbewusst und machen dem Betrachter klar: Wir sind hier die Chefs!

Der 2018 verstorbene Fotograf Ergun Çagatay hat die türkischstämmigen Jugendlichen porträtiert. Sie hatten ihr Revier rund um das Kottbusser Tor und waren nach der Wiedervereinigung auch in Konflikte mit Neonazis aus dem östlichen Stadtteil geraten. Die „36 Boys“, die eng mit der Entwicklung der Hip-Hop- Kultur in Berlin verbunden waren, traf Çagatay im Frühjahr 1990. Die Bilder, die dabei entstanden, sind jetzt Teil der Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch- deutsches Leben 1990“ im Museum Europäischer Kulturen in Dahlem.

[Museum Europäischer Kulturen, Arnimallee 25; bis 7. Februar, Di – Fr 10 – 17 Uhr, Sa/So 11 – 18 Uhr.]

„Sie taten mir einfach leid. Diesem Land war es nicht gelungen, ihnen ein anständiges Leben zu ermöglichen. Sie arbeiteten hart – und blieben Menschen zweiter Klasse. Unter den ‚36 Boys‘ war nur ein einziger, der aufs Gymnasium ging. Aufgabe der Politik wäre es, den Menschen die Gelegenheit zu bieten, zu zeigen, was in ihnen steckt“, wird Ergun Çagatay zitiert.

Als einer der namhaftesten türkischen Fotografen seiner Generation arbeitete er bei der Bildagentur Gamma in Paris und berichtete als Fotojournalist etwa über ein Flüchtlingslager in Bangkok oder über die Umweltkatastrophe des Aralsees. Als er 1990 durch das wiedervereinte Deutschland reiste, dokumentierte er den Alltag und die Lebenswelten der ersten und zweiten Generation türkischer Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten.

So entstanden knapp 3500 Aufnahmen, von denen das Kuratorenteam 107 für die Ausstellung ausgewählt hat: Angefangen mit den Bildern aus Hamburg, wo Çagatay seine Reise im Mai 1990 startete, führt die Ausstellung durch Köln, Werl, Berlin und Duisburg. Im Wechsel werden Schwarz-Weiß-Fotografien und Farbaufnahmen präsentierte: eine Variation aus dunklen Bergwerk-Motiven in Duisburg und dem bunten Treiben der Gemüse- und Obsthändler, die Çagatay in Kreuzberg und Köln fotografiert hat.

Dabei verschwimmt die Grenze zwischen dem Privaten und dem Politischen. Auf Aufnahmen aus der Hamburger Ausländerbehörde und Bildern von Arbeiterinnen am Fließband bei Ford in Köln folgen Fotografien von Menschen in der Fatih-Moschee in Werl, von Hochzeitsgesellschaften sowie Familienporträts in Berlin.

Stimmen aus der deutsch-türkischen Community kommen zu Wort

Das Kuratorenteam hat Wert darauf gelegt, dass sich die Besucherinnen und Besucher in der Ausstellung wiederfinden und sich erinnern, erklärt Co-Kuratorin Stefanie Grebe.

„In der Essener Ausstellung lagen zwei Gästebücher aus. Ein Blick in die vielen Einträge zeigt, dass die Fotografien Auslöser für ein Gespräch zwischen den Generationen waren“, erzählt sie über die vorherige Station der Fotoschau. Im Gästebuch haben sich die Kinder und Enkelkinder der von Çagatay dokumentierten ersten und zweiten Generation verewigt, während acht prominente Stimmen aus der deutsch-türkischen Community in eigens für die Ausstellung produzierten Videointerviews zu Wort kommen: Schriftsteller und Übersetzer Yüksel Pazarkaya, die Düsseldorfer Journalistin Asli Sevindim, die Soziologin Necla Kelek, Investigativjournalist Günter Wallraff, Sternekoch Ali Güngörmüs oder die ehemalige Fußballtrainerin Tugba Tekkal teilen darin ihre Sicht auf Themen der Migration und Integration. In den Statements wird der berühmte Satz des Schriftstellers Max Frisch „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“ gleich mehrfach zitiert. Ergun Çagatays Bilder erzählen genau davon.