Deutschland darf sich nicht vom Antisemitismus freisprechen
Es ist ein beklemmender Verdacht, der seit dem Wochenende im Raum steht. Hat der Sänger Gil Ofarim einen antisemitischen Vorfall in Leipzig vorgetäuscht, bloß weil er sich über die Hotelrezeption ärgerte? Oder handelte es sich gar um billige Effekthascherei, die als Karrieresprungbrett dienen sollte? Die öffentliche Aufregung über diese Fragen verdeckt, dass das eigentliche Thema davon unberührt bleibt: Der wachsende Antisemitismus in Deutschland.
Laut „Bild am Sonntag“ haben Ermittler im Fall Ofarim mittlerweile „erhebliche Zweifel“ daran, dass die Ereignisse so abliefen, wie in der ursprünglichen Schilderung des Sängers dargestellt. Dieser hatte vor knapp zwei Wochen auf Instagram ein Video geteilt, in dem er angab, in einem Leipziger Hotel antisemitisch angefeindet worden zu sein, weil er eine silberne Kette mit einem Davidstern trug.
Bilder von Überwachungsvideos scheinen nun aber zu beweisen, dass der Anhänger an seinem Hals zu diesem Zeitpunkt nicht zu erkennen war.
Der beschuldigte Mitarbeiter erstattete Anzeige wegen „Verleumdung“ gegen Ofarim. Dieser aber bleibt bei seiner Darstellung. Er sei sich nicht sicher, ob er an diesem Abend die Kette offen sichtbar getragen habe. „Dass ich vielleicht vom Opfer zum Täter gemacht werde und dass ich angeblich gelogen haben soll, darum habe ich mir keine Gedanken gemacht und ganz ehrlich, das hätte ich auch nicht gedacht“, sagte Ofarim am Montag.
Klar ist: Sollte sich der Verdacht des Falschvorwurfs erhärten, dann wären die Anschuldigungen nicht bloß gegenüber den beteiligten Hotelmitarbeitern eine Anmaßung. Ofarim hätte auch dem Kampf gegen den Antisemitismus einen gewaltigen Bärendienst erwiesen. Jedes Opfer von Judenfeindlichkeit müsste in Zukunft noch mehr um die eigene Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit kämpfen.
Mythos der kollektiven Unschuld
Die Debatte erinnert an den Fall des US-amerikanischen Sängers und Schauspielers Jussie Smollett. Dieser hatte 2019 angegeben von zwei maskierten Trump-Anhängern angegriffen worden zu sein, die ihn rassistisch und homophob beschimpft hätten – er erlebte daraufhin eine Welle der Solidarität.
In den Ermittlungen kamen später erhebliche Zweifel auf. Smollett soll den Übergriff inszeniert haben, um seine Karriere voranzubringen. Die rechtliche Auseinandersetzung läuft noch, doch die Enthüllungen waren ein schwerer Schlag für die antirassistische Bewegung in den USA.
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Ähnliches bahnt sich in Deutschland an: Noch bevor die Ermittlungen im Fall Ofarim abgeschlossen sind, frohlocken rechte Aktivsten und Trolle bereits auf Twitter. Vom Ende der „Schuld- und Sühne Rituale“, der „Antisemitismuskeule“ und dem „Opfer-Kult“ ist dort zu lesen. Man lacht befreit über Witze, dass man in Zukunft mit einem Davidstern-Anhänger überall Zugang erhalten könnte.
Man nährt bewusst oder unbewusst die antisemitische Mär vom gesellschaftszersetzenden Element – dem hinterlistigen und heimtückischen Juden. Der Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn hat unlängst in einem Buch aufgezeigt, dass die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern sich in einem Selbstbild manifestiert, das um den Mythos der kollektiven Unschuld kreist. Diese scheint nun vorerst wieder hergestellt zu sein. Ganz nach dem Motto: „Wir sind okay, der Jude lügt“.
Dabei ist die Anzahl der gemeldeten antisemitischen Straftaten von 2019 auf 2020 um 15,7 Prozent auf 2351 Fälle angestiegen. Erst vor zwei Jahren fand der Anschlag auf die Synagoge in Halle statt. Damals war viel vom gesellschaftspolitischen Klima die Rede, in dem hierzulande antisemitische Einstellungen gedeihen.
Dass Gil Ofarim in einem Land Erfahrungen von Hass und Anfeindung machen musste, in dem laut Umfragen jeder vierte Bundesbürger judenfeindliche Denkmuster mit sich herumträgt, ist mehr als glaubwürdig.
Dass es ihm nach der Veröffentlichung seines Videos bereits vielfach reflexhaft abgesprochen wurde, ist beschämend. Solange die Ermittlungen nicht zu einem gegenteiligen Ergebnis kommen, muss man die Vorwürfe also weiterhin ernstnehmen. Unabhängig davon: Die deutsche Gesellschaft wird niemals von ihrer Verantwortung zur Bekämpfung des Antisemitismus freigesprochen.