Tausend Ziele für Abenteurer
Kein weiteres Festival, wozu. In Berlin lebt die Jazzszene im Ganzjahresmodus. Von daher sind die „7 Tage Jazz, Improvisierte Musik und Diskurs“, wie sie die IG Jazz mit ihrer Jazzwoche zum nunmehr vierten Mal in der Stadt feiert, vor allem Werbung in eigener Sache. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was ohnehin stattfindet. Schwärmt aus, Berlinerinnen und Berliner, und geht zwischen dem Charlottenburger A-Trane und dem b-flat in Mitte, dem Kreuzberger exploratorium und dem Weißenseer Kühlspot Social Club auf Abenteuerfahrt! Ihr wisst gar nicht, was Ihr an uns habt.
Berlin ist vielleicht nicht die Jazzhauptstadt der Welt, aber es ist die Kapitale der improvisierten Musik: Wer die Termine der Field Notes (field-notes.berlin), der von der Initiative Neue Musk betriebenen Plattform, und die des Jazzkalenders (jazz-guide-berlin.de) studiert, die nur unvollständig in den großen Veranstaltungskalendern stehen, dem müssen die Augen übergehen. Welch eine Vielfalt der Nationen und Traditionen – zu erleben schon bei den Kurzauftritten zur Eröffnung der Jazzwoche in der Kuppelhalle des Silent Green.
Da verbündet sich der griechische Schlagzeuger Yorgos Dimitriadis mit der amerikanischen Klangkünstlerin Andrea Parkins zu einem Duo, das sowohl den großen Perkussionsapparat wie kleine Shaker und Glöckchen elektronisch verfremdet.
Der im jugoslawischen Banja Luka geborene Dejan Terzic ertrommelt sich mit dem aus Karl-Marx-Stadt stammenden Gitarristen Ronny Graupe ein dichtes Geflecht aus schroffen Rhythmen, Drones und flackernden Linien. Und der amerikanische Kontrabassist Nick Dunston stürzt sich in seinem elektroakustischen Projekt Skultura zusammen mit dem russischen Klarinettisten Eldar Tsalikov, dem türkischen Live-Elektroniker Korhan Erhel und seiner Landsfrau, der Sängerin Ayse Cansu Tanrikulu, in einen Mahlstrom der Mikroereignisse.
Was diese Art von Musik angeht, muss man nicht mehr neidisch nach Brooklyn schauen – sie spielt längst an der Spree. Nicht weniger prekär als in New York, erst recht nach den Corona-Lockdowns, aber zu (noch) geringeren Mieten. Und mit der Unterstützung einer Kulturpolitik, die, gemessen an der institutionalisierten klassischen Musik nach wie vor mit Zuwendungen geizt, aber wenigstens ein Minimum an Förderstrukturen bietet, von denen man nur hoffen kann, dass sie in ein Zentrum münden, das der improvisierenden Szene eines Tages die ihr gebührende Sichtbarkeit verschafft. In Klaus Lederer, der ein Grußwort sprach, hat sie einen aufrichtigen Freund.
Diskursiv in Teufels Küche
Es gehört zu den Aufgaben der IG Jazz, im Fordern nicht müde zu werden. Aber sie würde sich in Teufels Küche begeben, wenn sie in eine Polemik gegen die Hochkultur einstimmen würde, wie sie mit erschreckender Schlichtheit beim Eröffnungspanel zu hören war. Moderiert von Shelly Kupferberg, machte die deutsch-iranische Sängerin und Komponistin Cymin Samawatie, die diese Woche im Rahmen eines rbb-Konzerts den mit 15 000 Euro dotierten Jazzpreis Berlin 2022 erhält, immerhin praktische Vorschläge – bis hin zu einer verbesserten schulischen Jazzerziehung. Das Eindreschen auf den bösen Buben Neoliberalismus, in dem sich der Kommunikationswissenschaftler Aljoscha Paulus gefiel, hilft bei der Analyse der komplexen Misere allerdings so wenig wie der Verdacht eines zerstörerischen Klassismus. Der Jazz hat schon die schlimmsten Auswüchse von von Rassismus und Sexismus überstanden.
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Die Kulturanthropolog*in und Antidiskriminierungstrainer*in Francis Seeck schien es darauf anzulegen, die „hochsubventionierte Kultur“, insbesondere die Oper, schlechtzumachen, als sei diese ein bloßes Instrument bürgerlichen Distinktionsgewinns. Eine freie Gesellschaft käme keinen Schritt weiter, wenn sie Beethovens Streichquartette opfern und unter Verweis auf den Geschmack einer imaginären Arbeiterklasse Andrea Bergs Schlager retten wollte. Es kann, wie es Seeck anklingen ließ auch keine Rede davon sein, dass die unabhängige Kunstproduktion dieses Landes letztlich auf den Schultern reicher Erben ruht.
Die Geringschätzung der Hochkultur schadet dem Jazz schon durch einen Mangel an Hörerziehung. Ästhetisch, weil er seit Jahrzehnten Brücken zur zeitgenössischen Musik schlägt. Ökonomisch, weil sich die Institutionen, wenn auch langsam, zu langsam, öffnen. Überholte Ideologeme, und seien sie noch so woke aufpoliert, betreiben jedenfall das Geschäft der anderen Seite.
Bis zum 10. 7.; field-notes.berlin