Ariana Grande und Cynthia Erivo im Musicalfilm „Wicked“: Zwei Hexen auf Selbstfindungstrip

Das Musical genießt hierzulande nicht den besten Ruf. In Deutschland geht man in die Oper, jawohl, das ist Hochkultur. Wer ganz verrückt darauf ist, besucht vielleicht eine Operette. Aber Musicals? Das ist Kommerz, keine Kunst, meinen viele. Als Konsequenz aus diesem schlechten Image lässt die Qualität der deutschen Musical-Inszenierungen oft zu wünschen übrig, wird dem Publikum nicht viel zugetraut. Ein Teufelskreis.

Nicht so in den USA, wo das Niveau deutlich höher ist. Vielleicht steht man dem Musical in Deutschland auch deshalb so skeptisch gegenüber, weil es eine genuin amerikanische Kunstform ist und oft dem US-Klischee entsprechend: bombastisch, enthusiastisch, wenig subtil. Entweder man lässt sich komplett darauf ein oder man lässt es bleiben.

Das gilt definitiv für Jon M. Chus monumentale Musical-Verfilmung „Wicked“. Dessen Bilderwelt ist fantastisch und quietschbunt, sie ist bevölkert von sprechenden Tieren und Hexen, und alle zwei Minuten fängt jemand zu singen an. Man kann das alles affig finden (fliegende Affen gibt es auch!), aber lässt man seinen inneren Hochkultur-Snob einfach mal zu Hause, stellt man schnell fest: „Wicked“ ist magisch.

„Wicked“ ist das Prequel zum Zauberer von Oz

Die Vorgeschichte des Films umspannt mehr als 100 Jahre: 1900 erschien das Kinderbuch „Der Zauberer von Oz“ von Lyman Frank Baum, dessen Leinwandadaption 39 Jahre später die Herzen von Kindern und Erwachsenen eroberte und zu einem der größten Hollywood-Klassiker aller Zeiten wurde. Victor Flemings Technicolor-Musical-Spektakel erzählt die Geschichte von Dorothy, gespielt von Judy Garland, die durch einen Tornado ins Land Oz geweht wird. Dort trifft sie unter anderem auf die gute Hexe Glinda und tötet am Ende – Spoiler Alert – die aus unbekannten Gründen grünhäutige böse Hexe des Westens.

„Wicked“, das Musical, das wiederum auf einem Roman von Gregory Maguire aus dem Jahr 1995 basiert, setzt hier an. Die Geschichte ist ein Prequel zum „Zauberer von Oz“ und erzählt die Leidensgeschichte der bösen Hexe des Westens, die, wie sich herausstellt, gar nicht so böse ist. Und die eine enge Freundschaft mit Glinda, der guten Hexe, verband, die ihrerseits nicht immer so gut war. Musik und Lyrics stammen von Stephen Schwartz, Songs wie „Popular“ oder die Powerballade „Defying Gravity“ sind längst zu Hits geworden.

2003 feierte „Wicked“ Premiere am Broadway und läuft dort immer noch, als das zweiterfolgreichste Musical aller Zeiten – nur „Der König der Löwen“ hat mehr eingespielt. Es hat eine leidenschaftliche Fanbase, in ihrer Intensität (wenn auch nicht Quantität) vergleichbar mit den Swifties oder Marvel-Comics-Ultras.

Aus einem Musical wurden zwei Filme

Der Druck für Jon M. Chu könnte also größer nicht sein. Der Regisseur hat mit Filmen wie „Crazy Rich Asians“ oder „In the Heights“ bereits bewiesen, dass er aufwändige Tanz- und Musicalszenen inszenieren kann. Aber „Wicked“ ist ein anderes Biest: 150 Millionen Dollar soll Universal in das Projekt gepumpt haben.

Im Vorfeld gab es viel Skepsis, etwa angesichts der Entscheidung von Chu, aus dem Musical zwei Filme zu machen – Teil zwei erscheint im November 2025. Bereits der erste Teil ist mit seiner Laufzeit von zwei Stunden und 40 Minuten länger als das gesamte Musical. Auch das Casting von Ariana Grande in der Rolle der Glinda gefiel nicht allen: Wird ihr Popstar-Image nicht die Figur überschatten? Kann sie überhaupt schauspielern?

Letztlich waren alle Sorgen unbegründet. „Wicked“ liefert auf allen Kanälen ab und wird nicht nur der Musical-Vorlage gerecht, sondern funktioniert auch ohne Kenntnis des Broadway-Originals.

Jeff Goldblum und Michelle Yeoh in „Wicked“

© Universal Studios

Die Handlung bleibt eng an die des Musicals angelehnt, das Drehbuch haben Dana Fox und Winnie Holzman geschrieben – von Letzterer stammt auch das Script zur Bühnenshow. Los geht es mit einer Party. Die Einwohner von Oz feiern, dass die böse Hexe des Westens tot ist. Glinda hat ihnen die frohe Nachricht verkündet. Doch warum gibt es eigentlich das Böse, wird sie von einem ihrer Ergebenen gefragt. „Das ist eine gute Frage“, antwortet sie. „Ist man von Geburt an böse? Oder bekommt man das Böse erst eingeflößt?“

Damit sind wir bei der zentralen Message von „Wicked“: Niemand ist nur gut oder nur böse. Oft wird man von den äußeren Umständen oder von Propaganda zu dem gemacht, was man ist, zum Bösewicht oder zur Heldin.

Ungleiches Duo: Cynthia Erivo und Ariana Grande in „Wicked“

© Universal Studios

In einer Rückblende erzählt Glinda, wie Elphaba (Cynthia Erivo), der echte Name der „wicked witch“, böse gemacht worden ist. Aufgrund ihrer grünen Hautfarbe wurde sie von Geburt an diskriminiert und vom Vater verstoßen, eine sprechende Bärin zieht sie groß. Auch kümmert sie sich rührend um ihre kleine Schwester, Nessarose (Marissa Bode), die im Rollstuhl sitzt.

Eine ungewöhnliche Freundschaft entsteht

An der Glizz-Universität wird die Zauber-Professorin Madame Akaber (Michelle Yeoh) auf die magischen Fähigkeiten von Elphaba aufmerksam und nimmt sich der Außenseiterin an. Mit ihrer Mitbewohnerin, der beliebten Galinda, die sich später Glinda nennt, versteht sie sich erst gar nicht. Doch dann beginnen die beiden unterschiedlichen Frauen sich anzunähern und werden zu Freundinnen.

Parallel entwickeln beide Gefühle für den Prinzen Fiyero, gespielt von einem vor Charme nur so sprühenden Jonathan Bailey. Im großen Finale fahren sie gemeinsam in die Smaragdstadt, um dort den Zauberer von Oz (Jeff Goldblum) zu treffen, den Elphaba ihr Leben lang aus der Ferne bewundert hat.

Prince Charming: Jonathan Bailey als Fiyero in „Wicked“

© Universal Studios

Die größte Veränderung zum Musical ist ein stärkerer Fokus auf die Diskriminierung der sprechenden Tiere, die Oz bevölkern. Dunkle Mächte wollen die Tiere mundtot machen und sie in Käfige stecken, sie werden für sämtliche Probleme in Oz verantwortlich gemacht.

9

Millionen Tulpen ließ Regisseur Jon M. Chu für das Set von „Wicked“ anpflanzen.

Professor Dr. Dillamond, ein süßer CGI-Ziegenbock, im Original gesprochen von Peter Dinklage, wird seine Lehrberechtigung entzogen. Elphaba, selbst eine Verstoßene, setzt sich für die Rechte der Tiere ein, was ihr später zum Nachteil gereicht. Die Storyline zieht Parallelen zum aufkommenden Faschismus in Nazi-Deutschland – und hat in den USA nach Trumps Wahlsieg an Aktualität gewonnen.  

Eine Mischung aus Hogwarts und Barbie-Traumhaus

Der Rest des ersten „Wicked“-Films ist hauptsächlich World Building. Langeweile kommt trotzdem nicht auf, denn die Welt, die hier geschaffen wird, sieht atemberaubend aus. Chu nutzte das enorme Budget, um riesige Kulissen bauen zu lassen, ließ eigens neun Millionen Tulpen anpflanzen. Die Glizz-Universität erweist sich als Mischung aus Hogwarts und dem Barbie-Traumhaus, die Smaragdstadt funkelt grün, die Oscars für das beste Szenenbild und die besten Kostüme sind „Wicked“ quasi sicher. Es ist alles ein bisschen drüber, aber auch toll.

Eine weitere Oscar-Anwärterin: Ariana Grande, die als Glinda sämtliche Skeptiker zum Schweigen bringt. Sie spielt mit vollem Körpereinsatz diese Rolle, die jedes Klischee der dummen Blondine aufgreift und unterwandert. Eine Mischung aus Regina George und Elle Woods, stets in Pink gekleidet und von einem Heer von Mitläufern umringt, beweist sie nicht nur, dass sie eine herausragende Stimme hat, sondern auch großes komödiantisches Talent.

Ariana Grande als Glinda, die gute Hexe in „Wicked“

© Universal Studios

Cynthia Erivo aber ist als Elphaba das Herz des Films. Die Britin gewann bereits einen Tony-Award als Celie im Broadway-Musical „Die Farbe Lila“ und war für ihre Rolle als Harriet Tubman für den Oscar als beste Hauptdarstellerin nominiert. Erivo schafft es, der Rolle neue Nuancen zu verleihen, und brachte ihre Erfahrungen als schwarze, queere Frau ein. Ihre Elphaba trägt etwa Micro-Braids, ein traditionell schwarzer Haarstyle.

Cynthia Erivo in „Wicked“

© Universal Studios

Dass für Erivo und Grande mit diesen Rollen Träume in Erfüllung gehen, zeigt sich in ihren vielen gemeinsamen Interviews, von denen einige bereits zu Memes geworden sind. Die Stars brechen dort regelmäßig in Tränen aus, halten Händchen und schwören sich ewige Liebe und Dankbarkeit. So viel heiliger Ernst, so viel Pathos, man ist versucht, mit den Augen zu rollen. Aber ihren Performances merkt man an, wie viel Herz drinsteckt. Die „Theater Kids“ lieben es. Musical-Fan-Sein und Coolness gehen eben nicht Hand in Hand.

Ganz perfekt ist „Wicked“ dennoch nicht. Jon M. Chu und Kamerafrau Alice Brooks, mit der er schon für „In the Heights“ zusammenarbeitete, verwendeten viel natürliches Licht, um Oz wie einen realen Ort erscheinen zu lassen. Mit der Folge fehlender Kontraste und einer seltsam ausgewaschenen Farbgebung. Auch bleiben, trotz der enormen Länge, sämtliche Charaktere ziemlich eindimensional, mit Ausnahme von Elphaba und Glinda.

Trotzdem ist „Wicked“ der richtige Film in Zeiten populistischer Schuldzuweisungen und vereinfachender Narrative. In den USA wurde er bereits zum Popkultur-Phänomen, Fans verkleiden sich in Grün und Pink und diskutieren, ob man im Kino nun mitsingen darf oder nicht. Der Hype erinnert an „Barbie“ oder an die „Eras“-Tour von Taylor Swift. Hier wie dort kommen Menschen zusammen, geben sich knapp drei Stunden lang den ganz großen Gefühlen hin, dem schieren Spektakel. Wer „too cool for school“ ist, verpasst etwas.