„Ich bin allergisch gegen Beengung“
Antje Rávik Strubel wurde 1974 in Potsdam geboren, wo sie auch lebt und als Schriftstellerin und Übersetzerin (u.a. von Joan Didion und Lucia Berlin) arbeitet. 2001 wurde der Literaturbetrieb erstmals auf sie aufmerksam, als sie in Klagenfurt bei den Ingeborg-Bachmannpreis-Tagen den Ernst-Willner-Preis gewann. Im selben Jahr erschien ihr Debütroman „Offene Blende.“ Es folgten weitere Romane, darunter die Episodenromane „Der Schnee“ und „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ sowie „Tupolew 134″. Dieser Roman erzählt von einer innerdeutschen Flucht mit einem entführten Flugzeug der polnischen Airline Lot Ende der 70er Jahre. Antje Rávik Strubels neuester Roman „Blaue Frau“ (erschienen im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 430 Seiten, 24 €.) ist nominiert für den Deutschen Buchpreis. Dieser Preis wird am heutigen Montagabend in Frankfurt im Römer zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse vergeben. Er ist mit 25 000 Euro nominiert. Neben Rávik Strubel stehen auf der Shortlist Christian Kracht („Eurotrash“), Norbert Gstrein („Der zweite Jakob“), Mithu Sanyal („Identitti“), Thomas Kunst („Zandschower Kliniken“) und Monika Helfer („Vati“).
Frau Rávik Strubel, die Hauptfigur Ihres neuen Romans ist aufmerksamen Leser:innen nicht ganz unbekannt. Sie taucht in einem Ihrer frühen Bücher auf, dem Episodenroman „Unter Schnee“. Was hat Sie bewogen, Adinas Geschichte weiter zu erzählen?
Adina tauchte wieder häufiger in meiner Vorstellungswelt auf, und ich habe mich gefragt, wie ihr Leben nach ihrer Teenagerzeit in diesem tschechischen Skiort weiterging. 2012 war ich für ein halbes Jahr in Helsinki Writer in residence, da begann ich, mich mit ihr zu beschäftigen.
Acht Jahre haben Sie an dem Roman gearbeitet, eine lange Zeit. Sie sprechen im Nachwort von einer undurchsichtigen Arbeit. Wie meinen Sie das?
Romane schreiben ist immer undurchsichtig! Ich spiele in meiner Danksagung mit einer Aussage in Virginia Woolfs berühmtem Essay „Ein Zimmer für sich allein“. Darin ermutigt sie Studentinnen zum Schreiben von Büchern, nicht ohne Sarkasmus, weil schreibende Frauen vor gut hundert Jahren noch ausgelacht wurden.
Zu Beginn meiner Arbeit am Roman wusste ich nur, dass Adina sich in dem Plattenbau in Helsinki aufhält, in dem ich untergekommen war. Indem ich sie in meine Wohnung hineinschrieb, hatte ich sie nahe bei mir. Wie sie dort hinkam, musste ich erst herausfinden. Eine gute Voraussetzung zum Schreiben: Neugier und viele Fragen.
Die Durchsicht begann damit, dass Adina sexuell missbraucht wird. Dieser Missbrauch ist das Kernthema des Romans.
Durchsichtig ist eine Form des Unsichtbarseins, heißt es im Roman. Adina hat ein sexueller Übergriff unsichtbar gemacht. Unsichtbarkeit und Sprachlosigkeit in Sprache zu bringen, das hat mich interessiert. Außerdem die Frage, wie wir als Gesellschaft mit der grassierenden Gewalt gegen Frauen umgehen. Was macht diese Gewalt mit uns allen? Was betrachten wir als normal? Wieviel „rape“ wollen wir in unserer „culture“?
Die Reaktion der Gesellschaft ist niederschmetternd. Einmal ist die Rede davon, jeder Diebstahl werde härter bestraft als Körperverletzung, bei der Anzeige eines geklauten Portemonnaies herrsche sofort Glaubwürdigkeit, im Fall von Missbrauch oder Vergewaltigung aber werde niemandem geglaubt. Adina sieht dann von einer Anzeige gegen ihren Vergewaltiger ab.
Der Mythos von der lügenden Frau ist sehr lebendig. Mir war nicht klar, wie aussichtslos es ist, vor Gericht zu gehen, wie wenig Delikte dieser Art angezeigt werden, weil es kaum zu Verurteilungen kommt. Zumal die Hürde groß ist, den Tathergang vor Gericht zu erzählen, wenn, wie in Deutschland, der Täter im selben Raum sitzt. In Skandinavien läuft das per Videoübertragung, ohne dass ein psychologisches Gutachten nachweisen muss, was für eine emotionale Belastung das ist.
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Sie haben gesagt, dass sie an bestimmten Stellen ihres Romans sich schwer taten, weiterzuschreiben, sie pausieren mussten.
Ja, das Kapitel in der Uckermark, wo ein westdeutscher Kulturpolitiker übergriffig wird, kostete viel Arbeit. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem ostdeutschen Unternehmer, der ein Kulturzentrum aufbauen will, und dem potentiellen Geldgeber aus dem Westen beruht auf Beobachtungen. Die wollte ich so genau wie möglich schildern. Außerdem kam mir der Zorn dazwischen, Zorn über den allgegenwärtigen Mangel an Empathie. Ich musste warten, bis er sich abgekühlt hatte.
Kann man Adina als Opfer bezeichnen?
Dann müsste man jede dritte Frau als Opfer bezeichnen. Der Begriff löst sich auf, wenn er so inflationär benutzt wird. Auch wird das Problem dadurch vereinzelt, dabei betrifft es uns alle. Ich erzähle die Geschichte von einer, die auszog und im heutigen Europa das Fürchten lernte. Adina ist eigensinnig, widerständig, voller Pläne und Sehnsüchte, zugleich verloren.
Ihr Geschlecht ist fluide, einmal heißt es, sie sei weder eine Frau noch ein Mann.
Adina findet diese Einteilung blöd, eine „unnütze Notwendigkeit, die sich andere ausgedacht haben“. Für sie sind diese Kategorien nicht fest, ihre Zeit in Berlin bestärkt sie darin. Doch ich problematisiere ihr Geschlecht nicht im Roman. Es ist etwas Beiläufiges. Adina gehört zu einer Generation, die das nicht mehr so eng sieht.
Sie kennzeichnen Adina im Text aber als weibliche Person.
Ja, so wird sie wahrgenommen. Und hätte ich ein Pronomen wie „xier“ benutzt, hätte ich den Roman einer aggressiven politischen Debatte ausgesetzt. Außerdem hätte das einen ungewollten Verfremdungseffekt erzeugt. Neo-Pronomen gehören noch der Sphäre einer experimentelleren Ästhetik an. Und wie gesagt: Das ist im Buch kein großes Thema.
Ein anderes Kernthema Ihres Romans ist Europa, wobei man von einem Europa erster und zweiter Klasse sprechen kann.
Das stimmt. Europa zerfällt in Zentrum und Peripherie, der Westen ist das Zentrum, Osteuropa die Peripherie. Das ist ein Problem. Adina durchstreift dieses Europa von Tschechien über Deutschland nach Finnland. Da bekommt sie einiges mit, wird unterschiedlich wahrgenommen. Mich wundert es zuweilen, wie schwer sich die Kritik tut, wenn ein Roman mehr als ein Thema aufwirft. Obwohl uns täglich hunderte Themen streifen. Da heißt es: Geht es um Europa? Oder um sexuelle Gewalt? Es ist ein Roman, kein Sachbuch, und darin unserem Bewusstsein ähnlich, wie wir seit der literarischen Moderne wissen: Der Raum eines Sowohl-als-auch. Da trifft vieles zusammen.
So wie auch die europäische Erinnerungspolitik, mit der sich einer Ihrer Figuren engagiert beruflich beschäftigt?
In Helsinki offenbarten mir Wissenschaftler*innen die Ignoranz des Westens gegenüber der baltischen, der osteuropäischen jüngeren Geschichte. Erst 1991, nach Abzug der Sowjets, konnte man hier anfangen, sich mit den faschistischen und stalinistischen Verbrechen auseinanderzusetzen, vorher war das Erinnern eingefroren. Es wird erwartet, dass sich alle nach dem westlichen Diskurs richten. Ich bin in der DDR aufgewachsen, das verbindet mich mit Adina und ihrem estnischen Geliebten
In Ihren letzten Büchern spielt Deutschland eine eher untergeordnete Rolle. Hat das mit Ihrer Herkunft zu tun?
Zwei der vier Kapitel in „Blaue Frau“ spielen in Deutschland! Aber der Blick nach Außen hat mich immer gereizt. Meine frühen Romane erzählen von der Nachwendezeit, auch mit dem Blick hinaus. Ich bin wohl allergisch gegen Beengung und Begrenzung. In „Tupolew 134“ geht es ums Fliegen, also ums Rauskommen. Die deutsche Sprache verpflichtet mich ja nicht dazu, nur sogenannte deutsche Romane zu schreiben.
Sie erwähnen in ihrem Buch, lange als ostdeutsche Schriftstellerin kategorisiert worden zu sein. Das empfanden Sie als „fad“.
Ende der 1990er Jahre beobachtete ich, wie differenziert Schriftsteller*innen westdeutscher Herkunft wahrgenommen wurden, aus welcher Region sie stammen, welchen Hintergrund sie haben. Aus Ostdeutschland kam man nur aus Ostdeutschland. Zu DDR-Zeiten waren die Landkarten dort, wo Westen war, weiß. Jetzt gab es die weißen Flecken in der Wahrnehmung westdeutscher Medienmacher, wenn es um ostdeutsche Themen ging. Das fand ich furchtbar fad, ja.
In Ihrem Roman gibt es eine Ich-Erzählerin, die in Zwischenkapiteln immer wieder auf die titelgebende Blaue Frau trifft, und manchmal Ähnlichkeiten mit Ihnen hat.
Die Blaue Frau ermöglicht es mir, über meine Position nachzudenken. Warum erzähle ich diese Geschichte? Ich finde nicht, dass man heute Geschichten noch einfach so runtererzählen kann. Da stellt sich immer die Frage: Wer bin ich dabei? Wobei dieses Ich natürlich schillert. Das hat Paul Auster mal schön auf den Punkt gebracht, indem er Baudelaire zitierte: Wo immer ich nicht bin, bin ich ich selbst.
Wie kamen sie auf die Blaue Frau?
Eines Tages tauchte sie in einem kleinen Hafen in Helsinki auf. Wir unterhielten uns. In meinem Kopf war sie sehr lebendig. Ich schrieb unsere Gespräche mit, die zu poetischen Fragmenten wurden. Im Laufe der Zeit stellte ich fest, dass sie und Adinas Geschichte zusammengehörten.
So wie man manchmal den Eindruck hat, dass Ihre Ich-Erzählerin, die Blaue Frau und Adina ineinander übergehen.
Tja, eben: Wer bin ich? Wer könnte ich sein? Die Blaue Frau gehört zu den Wasser- und Luftgestalten der Literatur. Sie steht für Verführung, Veränderung, Wandel. Sie könnte Adina in der Zukunft sein. Die Aussicht auf eine poetische Gerechtigkeit. Letztendlich entstammt sie der Sphäre des Irrealen. Denken Sie an das Undine-Motiv der Romantik. An die Protagonistin aus Bachmanns „Malina“, die in der Wand verschwindet. An „Die Frau vom Meer“ bei Ibsen.
Am Ende heißt es, Sie, Ihre Ich-Erzählerin würden Helsinki vermissen, steht dieses Vermissen auch für die Blaue Frau?
Ja, ich vermisse sie sehr. So wie das Schreiben am Roman. Und wenn Sie es ganz schlicht wollen: Ich sehne mich nach dem Norden.