Die Liebe liebt das Wandern

Grau und grausam wie der November ist vielleicht kein anderer Monat. Gnadenlos weht ein Wind, der verkündet, dass es bald noch kälter wird. Das Gemüt ist ohnehin angeknackst, weil „die Zahlen“ steigen und der Mensch, eigentlich ein Herdentier, wieder auf Abstand gehen muss.

Die schönsten, seelenerwärmendsten Songs dieser Schreckenstage stammen vom Berliner Sänger Tristan Brusch. Die elf Stücke seines gerade erschienenen Albums „Am Rest“ sind ein perfektes Hilfsmittel gegen den Herbstblues. Schon das Auftaktstück „Zwei Wunder am Tag“, ein gemächlich einsetzender, von flirrenden Gitarren getragener Walzer, ist ein Tanz gegen die Angst. „Jeden Morgen geht die Sonne im Osten auf / Jeden Abend im Westen wieder unter“, so der Refrain. Doch diese beiden Wunder reichen dem Sänger nicht. Es verlangt mehr Magie, mehr Mirakel, mehr Macht: „Muss noch schöner, öfter, bunter.“ Und dann explodiert sein Lied in schepperndem Feedback.

Vergilbte Berufsbezeichnung

Man könnte Tristan Brusch als Liedermacher bezeichnen, wenn diese Berufsbezeichnung nicht schon so vergilbt wäre. Er ist mit Sven Regener und Rio Reiser verglichen worden, und wenn er bei „Zwei Wunder am Tag“ mit fies zerdehnten Silben eine Welt beschwört, die voller Menschen ist, „die sich ineinander mantschen“, dann erinnert er sogar an Klaus Kinski. Nur dass Kinski keine E-Gitarre gespielt hat. Brusch, der 1988 in Gelsenkirchen geboren wurde, in Tübingen aufwuchs und heute in Berlin lebt, ist ein Grenzgänger zwischen den Genres. Aus Alltagsbetrachtungen macht er Popsymphonien.

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Bittersüßer als im Titeltrack von „Am Rest“ ist das Ende einer Beziehung lange nicht beschrieben worden. „Wenn die Liebe uns verlässt / Halten wir uns fest“, säuselt Brusch, im Hintergrund summt ein Chor und die Akustikgitarre spielt eine Trauerfanfare. Küsse werden nicht mehr getauscht, zwei Suppen und zwei Chai aus dem Asia-Imbiss sind das Abschiedsessen.

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„Die Liebe liebt das Wandern / Wer hat sie so gemacht?“, fragt Brusch, einen sechzig Jahre alten Hit von Connie Francis variierend: „Die Liebe ist ein seltsames Spiel / Sie kommt und geht von einem zum ander’n.“

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Auf seinem 2008 herausgekommenen Debütalbum „My Ivory Mind“ hat Brusch noch auf Englisch gesungen. Die Nachfolgeplatte „Das Paradies“ irrlichterte 2018 zwischen Kirmespop und Kleinkunst. „Am Rest“ hat er innerhalb von vier Tagen mit seiner Band und dem Produzenten Tim Tautorat in den Berliner Hansa Studios aufgenommen. Weitgehend unter Live-Bedingungen und ohne vorher geprobt zu haben. Eine Arbeitsweise, die er in einem Interview mit Hip-Hop-Arbeitsmethoden verglich: „Die Rapper bekommen einen Beat vorgeworfen und improvisieren darüber.“

Trötende Tiraden

Aber Tristan Brusch rappt nicht wirklich, auch wenn er mit Hip-Hop-Größen wie den Orsons, Fatoni oder Cro zusammengearbeitet hat. Mitunter wird sein Gesang rasend. In der Spoken-Word-Tirade „Krone der Schöpfung“ rattert er zu einem trötenden Free-Jazz-Saxofon durch die Stationen eines sinnlosen Konsumdaseins und ächzt: „Halt die Schnauze und genieße!“ Ein manisches Rollenspiel.

[„Am Rest“ von Tristan Brusche ist bei BDKA/Kontor New Media erschienen]

Manche Lieder von Brusch funktionieren wie Tagebucheintragungen. Die Klavierballade „2006“ erzählt vom Wunder einer ersten Liebe und zerrissenen Gefühlen und endet mit einem herzzerreißenden Lebewohl: „Und du warst noch lange, lange, lange nicht tot.“ Darauf folgt das letzte Lied des Albums, eine Fünf-Minuten-Autobiografie von der Kaiserschnitt-Geburt in Gelsenkirchen („hässliche Stadt, hässliche Narbe auf dem Bauch“) bis zu einem Gruppenbild mit Kippe: „Oben leuchten die Sterne, unten leuchtet unsere Zigarettenglut.“ Der Song heißt, ganz ohne Ironie: „Das Leben ist schön“.