Die Bilanz des Cannes-Festivals: Hauptpreise für beide Filme mit Sandra Hüller
Auch wenn man als Kritiker leicht dazu neigt, die Rolle von Filmfestivals als Seismograf des Weltgeschehens überzubewerten, so geben die zwölf Tage in Cannes zumindest doch einen repräsentativen Überblick über den Zustand des Weltkinos. Dieser Begriff wird an der Croisette noch einmal emphatischer und allumfassender verstanden als auf anderen Filmfestivals.
Mit Empirie kommt man hier nur bedingt weiter, obwohl man sich in Cannes mit 41 in den verschiedenen Reihen vertretenen Ländern und sieben Regisseurinnen im Wettbewerb dieses Jahr auf der Höhe der gesellschaftlichen Debatten um Diversität und Repräsentation versteht. Das war zuletzt nicht immer so.
Palmengewinnerin Triet fordert Chancen für junge Regisseurinnen
Und vielleicht ist die diesjährige Goldene Palme für die französische Regisseurin Justine Triet und ihren Film „Anatomy of a Fall“ ein Zeichen, dass in Cannes tatsächlich eine neue Ära angebrochen ist und sich der Wandel, gegen alle Widerstände, möchte man fast sagen, verstetigt.
Dass die Jury um Ruben Östlund mit der 44-jährigen Triet nun zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren, nach dem diesjährigen Jury-Mitglied Julia Ducournau für „Titane“, einer französischen Filmemacherin den Hauptpreis in Cannes verleiht, deutet auch auf einen Generationenwechsel im französischen Kino hin. Das bewies sich auch in ihrer politischen Dankesrede, in der sie die Proteste gegen Emmanuel Macrons umstrittene Rentenreform verteidigte und mehr Chancen für junge Filmemacherinnen, zu denen sie, wie sie sagte, selbst einmal gehörte, forderte.
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Es war ein kurzes, aber vehementes Plädoyer. Triet gehört noch nicht lange zum inneren Zirkel von Cannes, erstmals war sie 2019 mit „Sibyl“ im Wettbewerb. Aber so wie sie und ihre drei Jahre jüngere italienische Kollegin Alice Rohrwacher in diesem Jahr von Publikum und Kritik gefeiert wurden, lässt darauf schließen, dass sich der Cannes-Kanon langsam erweitert.
Der Triunph von „Anatomy of a Fall“ hat aber auch maßgeblich mit seiner Hauptdarstellerin Sandra Hüller zu tun, die Triets Gerichtsdrama fast alleine trägt. Dass Hüller ebenfalls in Jonathan Glazers Auschwitz-Drama „The Zone of Interest“ (ausgezeichnet mit der zweitwichtigsten Palme, dem Großen Preis der Jury) die weibliche Hauptrolle spielt, macht sie zum heimlichen Star des Festivals – obwohl der Darstellerinnenpreis an die türkische Schauspielerin Merve Dizdar geht.
Hüller spielt in „Anatomy of a Fall“ die Schriftstellerin Sandra, die des Mordes an ihrem Mann verdächtigt wird. Der Film, der sich zunächst wie ein Whodunit entspinnt, entpuppt sich im Verlauf des Prozesses aber weniger als Versuch einer Urteilsfindung, sondern als die Anatomie einer Ehe.
Sandra Hüller manövriert ihre Figur Sandra, die des Mordes angeklagt wird, bevor sie überhaupt die Zeit hat, den Tod ihres Ehemanns zu betrauern, emotional feinnervig durch die Verhandlung, in der sich die Schuldfrage irgendwann weniger um einen Mord dreht, sondern um das Scheitern einer Beziehung.
Triet, die auch am Drehbuch geschrieben hat, schlägt in dem psychologisch vexierspielhaften Gerichtsdrama nach leicht überdrehten Komödien einen deutlich konzentrierteren Ton an. Mit ihr und Hüller, die schon in „Sybil“ eine kleine Rolle hatte, finden zwei aufstrebende Namen des europäischen Kinos zusammen.
Hüllers Spektrum zwischen „The Zone of Interest“ und „Anatomy of a Fall“ ist ein schauspielerischer Drahtseilakt. Cannes-Leiter Thierry Frémaux hatte sie schon zu Beginn des Festivals als „internationalen Star“ geadelt. Dieses Jahr beweist Sandra Hüller nun gleich zwei Mal, dass ihr diese Fußstapfen nicht zu groß sind.
Das Cannes Festival ist eine Simulation von Realität
Doch ein Filmfestival ist mehr als die Summe seiner schönsten Momente. Im Maschinenraum der Bilder entsteht immer auch eine Simulation von Realität, das gilt für Cannes mehr noch als für andere Orte, an denen dem Kino eine essenzielle Qualität beigemessen wird.
Die Durchlässigkeit dieser Bilder für unser Empfinden der Gegenwart prägt maßgeblich den Gesamteindruck des Festivals. Wie ernst sich das Kino in seiner Rolle als Vermittler und Übersetzer unserer Weltwahrnehmung in Bilder nimmt – beziehungsweise im Erspüren von Bildern und Geschichten, die unsere Wahrnehmung öffnen –, verrät einiges über den Zustand des Kinos selbst.
Zu den Bilder, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben und die auch etwas über die Sensibilität ihrer Regisseure und Regisseurinnen erzählen, gehören in diesem Jahr gleich mehrere Szenen aus Jonathan Glazers formal rigorosem „The Zone of Interest“. Etwa Hüller als Ehefrau des Auschwitz-Leiters Rudolf Höß, die im Suburbia-Eigenheim, das direkt an die Lagermauern anschließt, gemeinsam mit ihren Freundinnen die beschlagnahmte Kleidung von jüdischen Frauen inspiziert und die schönsten Stücke unter ihnen aufteilt. Oder der kurze Sprung in die Gegenwart der heutigen KZ-Gedenkstätte, der die schützende Distanz des Unbeschreibbaren, das bei Glazer nur abstrakt auf der Tonspur zu hören ist, aufhebt.
Viagra für die Altmeister des europäischen Kinos
Der türkische Meisterregisseur Nuri Bilge Ceylan, ein Spezialist für sorgfältig konstruierte Dialogsequenzen und fragile Männlichkeit, hat in dem über dreistündigen „About Dry Grasses“ einen großartigen Meta-Moment. Einmal wird eine ausschweifende politische Grundsatzdiskussion zwischen der männlichen Hauptfigur Samet und der jungen Lehrerin Nuray, gespielt von Merve Dizdar, abrupt unterbrochen: Auf dem Höhepunkt des leidenschaftlichen Streits verlässt er ihr Wohnzimmer durch eine Tür – und steht plötzlich hinter den Kulissen im Filmset, wo er den Waschraum aufsucht und erstmal Viagra einwirft.
Die Szene ist auch ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich in den Filmen von Ceylan die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern immer wieder zugunsten seiner weiblichen Figuren verschieben. Die Jury würdigte dies zu Recht mit dem Preis für Dizdar.
Lakonischer Liebesfilm in Zeiten des Krieges
Eine böswillige Kritik könnte diesen lakonischen Viagra-Moment auch auf eine Generation von Filmemachern im Herbst ihrer Karriere beziehen, die in diesem Jahr den Wettbewerb geprägt haben – und dabei noch einmal eine erstaunliche Vitalität bewiesen. Zu ihnen gehören auch der italienische Altmeister Marco Bellocchio mit seinem kirchenkritischen Historienfilm „Kidnapped“ und Wim Wenders, der in seiner zen-haften Charakterstudie „Perfect Days“ über einen schweigsamen Toilettenreiniger in Tokio (Koji Yakusho, der als bester Darsteller ausgezeichnet wird) zur konzentrierten Beobachtungsgabe seiner frühen Filme zurückfindet.
Der 86-jährige Ken Loach führt in diesem Jahr zusammen mit seinem finnischen Kollegen Aki Kaurismäki – sowie der Französin Catherine Breillat – die Comeback-Fraktion in Cannes an. Und vielleicht nicht ganz zufällig sind „Fallen Leaves“ von Kaurismäki und Loachs „The Old Oak“ auch die beiden einzigen Filme im Wettbewerb, die sich ganz explizit in der Gegenwart verorten. Das Evergreen-Thema der Liebe in Zeiten des Krieges grundiert Kaurismäki mit Radionachrichten aus der Ukraine, die Drohkulisse gibt der stoischen Tragikomik seines Kinos eine existenzielle Qualität.
Das Leben geht weiter, während um uns herum der Krieg tobt – welcher Kaurismäkis Figuren dann in Form einer Stromrechnung einholt. Dieses Gefühl beschlich einen auch an manchen der zwölf Tage des Festivals, das in einer völlig eigenen Realität existiert.
Kenn weder die Freude noch Freiheit und Glück / Im Herzen blieb mir nur die Hoffnung zurück
Die ukrainische Dichterin Lesja Ukrajinka, vorgetragen von Catherine Deneuve
„Kenn weder die Freude noch Freiheit und Glück / Im Herzen blieb mir nur die Hoffnung zurück“, lauten die ersten Zeilen des Gedichts „Hoffnung“ der ukrainischen Dichterin Lesja Ukrajinka, das Catherine Deneuve auf der Eröffnungsgala vortrug. Aber ihre Worte verhallten in den folgenden Tagen im Festivaltrubel, in dem die russischen Filmeinkäufer, so berichteten die Branchenblätter euphorisch, mit Geld um sich warfen, als sei nichts geschehen.
Findet sich die Zukunft der Bilder noch auf Filmfestivals?
Ein Festival, das so vehement auf die gesellschaftliche Bedeutung des Kinos rekurriert, wie Thierry Frémaux dies gerne salbungsvoll tut, darf diesen Widerspruch eigentlich nicht hinnehmen. Auch darum war es gut, noch einmal Ken Loach im Wettbewerb zu erleben, der der Filmkunst sicher nichts mehr hinzuzufügen hat.
Seine Parallelerzählung von zwei verschwundenen Welten – der nordenglischen Kohleindustrie mit ihren leeren Zechen und Kohorten von Arbeitslosen und den syrischen Städten mitsamt ihrem zerstörten Kulturerbe – birgt aber immer noch eine tröstliche Wahrhaftigkeit.
Einmal sitzt die junge syrische Geflüchtete Yara (Ebla Mari) mit dem Pub-Besitzer TJ (Dave Turner) in der Kathedrale von Durham und bemerkt traurig, dass niemand je erfahren wird, wie die zerstörten Tempel von Palmyra in tausend Jahren aussehen würden.
In diesen zeitlichen Dimensionen muss man das Kino sicher nicht denken. Aber wo sonst, wenn nicht auf einem Filmfestival, wäre die Frage nach der Zukunft – oder zumindest der Gegenwart – des Kinos angemessener? Dass im diesjährigen Wettbewerb die sogenannten Altmeister so überraschend stark präsent waren, zeigt, wie schwer in einem Traditionsbetrieb wie Cannes die Übergänge in eine neue Zeit bleiben.
Dass die Filme von Ceylan, Kaurismäki, Wenders, Bellocchio und Loach überzeugten, erspart Festival-Leiter Thierry Frémaux immerhin einige unangenehme Fragen: eben auch die nach der Zukunft des Kinos, als dessen eifrigster Verteidiger er sich versteht. Dazu muss man nicht tausend Jahren vorausschauen, die nächsten zehn reichen eigentlich auch schon.
Ein „Festival der Entdeckungen“ hatte Frémaux angekündigt, dieses Versprechen konnte Cannes 2023 nicht erfüllen. Es war ein großartiger, stellenweise aber noch zu restaurativer Jahrgang – was sich perspektivisch, im Anbetracht eines schwindenden Arthouse-Publikums, als gewagte Strategie erweisen könnte.