Er schrieb Theatergeschichte

Manche Theaterkritiker sehen immer nur, was auf der Bühne geschieht. Günther Rühle wollte immer tiefer blicken und höher ausgreifen. Er war als Kritiker und Kulturhistoriker auch ein auf die Hintergründe von Dramen und Dramatikern, von ihren Stücken und Stoffen, von Regisseuren, Schauspielern und Schauspielerinnen drängender, so analytischer wie zugleich leidenschaftlicher Liebhaber. Deswegen hielt es ihn nicht nur im Parkett. Als langjähriger Theaterbeobachter und schließlich Feuilletonchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wechselte er tatsächlich die Seiten und wurde zur Überraschung mancher seiner Kollegen Intendant des Schauspiels Frankfurt.

In dieser neuen Rolle, von 1985 bis 1990, blieb er freilich bald nicht im Hintergrund und blickte sogar jäh in den Abgrund. Günther Rühle hatte in seinem ersten Frankfurter Theaterherbst die Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders bereits zehn Jahre zuvor geschriebenem und zunächst von Daniel Schmid (unter dem Titel „Schatten der Engel“) erfolgreich verfilmten Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ angesetzt. Am 31. Oktober 1985, dem Abend der geplanten Premiere, protestierten dann tausend Menschen vor dem Theatereingang gegen die angeblich antisemitischen Tendenzen des Dramas.

Lebende Leichen, deutsche Dämonen

Fassbinders teils kruder, teils postexpressionistischer Spuk fantasierte zwischen lebenden Leichen, deutschen Dämonen, Geisterreitern, Huren, Altnazis, Spekulanten, Strichjungen auch die Figur eines „Reichen Juden“ hervor. Sie war die Projektion realer und heute, im 21. Jahrhundert, wieder virulent gewordener antisemitischer Vorurteile. Dieses Spiel mit dem Zerrspiegel erschreckte etliche Holocaust-Überlebende der Jüdischen Gemeinde von Frankfurt so sehr, dass sie damals die Bühne besetzten und zu Beginn der Aufführung ein Plakat mit der Warnschrift „Subventionierter Antisemitismus“ ausrollten. Der Protest der Betroffenen führte trotz Schlichtungsversuchen durch Dany Cohn-Bendit, der sich im Publikum kunst-, politik- und moralbewusst als Anwalt beider Seiten gerierte, zum Abbruch. Die im Kern eher harmlose Inszenierung wurde einen Tag später nur noch vor ausgewählten Kritikern gezeigt.

Rühle wirkte an dem dramatischen Abend trotz oder wegen seiner eigenen Erregung zugleich wie paralysiert. Er war damals in der „FAZ“, seiner eben noch eigenen Zeitung, schon vor der Fassbinder-Premiere wie ein Vorschubleister des Antisemitismus angeprangert worden, und sein eben noch Herausgeber Joachim Fest stellte ihn in der Zeitung gar als „Theatromane“ und „enthemmten Studienrat“ dar. Das klang wie: Professor Unrat. Aus der Feder von Fest, der in seiner 1200 Seiten dicken „Hitler“-Biografie dem Massenmord an den Juden – unter dem nazibürokratischen, ohne Anführungszeichen geschriebenen Stichwort „Endlösung“ – ganze vier Seiten gewidmet hatte.

Kerrs Briefe machte er zum Bestseller

Diese Wunde ist in Rühles Seele wohl erst zwölf Jahre später wieder geschlossen worden. In der „FAZ“ und im Fernsehen war es 1997 Marcel Reich-Ranicki, der die von Günther Rühle in heute polnischen Archiven entdeckten, bis dahin vergessenen oder unbekannten „Briefe aus der Reichshauptstadt“ von Alfred Kerr als Sensation und bedeutendstes feuilletonistisch-essayistischstes Dokument der Jahrhundertwende rühmte. Der als Jude und Demokrat von den Nazis später ins Exil getriebene Theaterkritiker und Schriftsteller Alfred Kerr war mit seinen 1895-1900 für die „Breslauer Zeitung“ verfassten Briefen aus Berlin dank des Herausgebers und brillanten Kommentators Rühle ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod so noch einmal zum Bestsellerautor geworden.

Nicht zuletzt wegen seiner Verdienste um die Werke Kerrs und manch anderer Geister vor allem der Weimarer Republik, vielleicht auch für seine Wiederentdeckung Marieluise Fleißers, der Brecht-Zeitgenossin und lange vergessenen Dramatikerin, hat Rühle dann 2013 im Mendelssohn-Haus in Berlin die Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille erhalten. Kaum mehr glaublich, dass der dort in einer bewegenden Feier Ausgezeichneten je in die Nähe von rassistischen Vorurteilen gerückt worden war.

„Hoppla, wir leben“ hieß Ernst Tollers expressionistisch-revolutionäres Zeitstück, mit dem Erwin Piscator 1927 sein berühmtes Theater am Berliner Nollendorfplatz eröffnet hatte. Drei Jahre zuvor kam Günther Rühle in Gießen zur Welt, als Sohn eines Wirtschaftsprüfers, als Nachfahre eines preußischen Generals und Freundes von Heinrich von Kleist. Ein Bürger, kein Revoluzzer, in den 1960er Jahren erst Theaterkritiker der „FAZ“ und von 1974 bis 1985 ihr Feuilletonchef. Dass es auf den Kulturseiten der (damals noch konservativeren) „FAZ“ oft gärte, lag auch an Rühles geistiger Hefe. Der klein gewachsene Mann, promovierter Germanist, schien im Gespräch, in Debatten, bei öffentlichen Reden sofort zu wachsen. Er hatte, leicht geröteten Gesichts und mit gehobener Stimme, so immer Statur. Gewicht. Sprach meist frei und druckreif. Machte Eindruck. Meinte es ernst, obwohl er mit kurzen Bemerkungen von wunderbar hintergründigem Humor sein konnte. Ein Feuerkopf noch bis ins hohe Alter, selbst den Neunzigjährigen glaubte man ihm lange nicht.

Er half, den Tagesspiegel nach Osten zu öffnen

Als Intendant des Frankfurter Theaters hatte er Schauspieler wie Martin Wuttke und Thomas Thieme entdeckt und den Regisseur und Dichter Einar Schleef entscheidend gefördert. Doch nach fünf Jahren kehrte er Anfang der1990er zurück zur Publizistik, arbeitete ein paar Jahre auch beim Tagesspiegel und half als Feuilletonchef, das West-Berliner Traditionsblatt weiter zu öffnen, gen Osten und Süden, ins gesamtdeutsch Überregionale. Als Anreger und geistiges Temperament.

Da freilich lag sein Mammut-Oeuvre noch vor ihm. 2007 nämlich erschien im S. Fischer Verlag der erste Band seiner Bühnengeschichte: „Theater in Deutschland 1887-1945“. Das waren 1283 Textseiten, ohne eine einzige Abbildung! Und dennoch ist darin ein gewaltiges, lebendiges Bild des deutschen und deutschsprachigen Schauspiels entstanden, wie es derart kein zweites gibt. Der sodann auf 1519 Seiten angewachsene Fortsetzungsband endete freilich 1966. Also anderthalbtausend Seiten für gerade 21 Jahre, hoppla! Günther Rühle indes hatte so viel im jederzeit geistesgegenwärtigen Kopf, dass es für mehr als eine einzige Person (und Persönlichkeit) reichte.

[Alle wichtigen Updates des Tages finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter “Fragen des Tages”. Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]

Er war ein glühender Journalist und zugleich ein sprühender Historiker. Ein Mann des Tages und der Epochen. Würde der Theaterkritiker g.r. (das war zu Zeitungszeiten sein Kürzel, oft auch unter Dreihundertzeilern) noch viel näher ans Heute heranschreiben? So sind wohl weitere 1000 Seiten in Arbeit gewesen. Mit dem lange noch scharfen, aber zunehmend traurigen Blick auf ein Theater der selbst ernannten Dekonstrukteure, das poetische Dramentexte immer weniger schätzte und Literatur gerne durch den Gefühlswolf der jeweils eigenen, meist kleineren Befindlichkeit dreht. Doch den dritten Band jener gewaltigen Theatergeschichte konnte Rühle, den zuletzt noch der Verlust seines Augenlichts quälte, nicht mehr vollenden. Er wird wohl als Fragment erscheinen.

Hierzu meinte der Kritiker als Historiker einmal gesprächsweise: „Im ganz Gegenwärtigen wird’s doch uferlos und jeder glaubt, der Besserwisser zu sein.“ Am Freitag ist Günther Rühle mit 97 Jahren in seinem Haus in Bad Soden bei Frankfurt am Main gestorben.

Vor ein paar Monaten noch erschien, ein kleines Wunder, „Ein alter Mann wird älter. Ein merkwürdiges Tagebuch“, vom fast erblindeten Rühle ins Dunkel getippt, von Gerhard Ahrens herausgegeben. Ein zartes, berührendes, ein hartes und klares Buch. Einer der letzten Sätze lautet: „Man stirbt in seinen Gedanken länger als in seinem Körper.“