Die Bösen haben es immer etwas leichter

In der Bibel steht nichts davon, dass Maria aus Magdala eine verlorene Seele war. In den Apokryphen wird sie als Jüngerin Jesu aufgeführt, gar als dessen Lebensgefährtin. Erst im sechsten Jahrhundert, als die Rolle der Frau in der Kirche eingeschränkt wurde, erklärte man diese „Apostelin der Apostel“ zur Sünderin.

Und als solche hat sie dann in Kunst und Musik prachtvoll Karriere gemacht: als Prostituierte, die lamentiert, bereut und der vergeben wird. Als Schönheit, luxuriös aufgeputzt bei Cranach oder splitternackt bei Riemenschneider, eingehüllt nur in ihr langes Haar, das bis über die Knie reicht.

Sopranistin Giulia Semenzato schüttelt die Locken

Im Kammermusiksaal der Philharmonie löst die Sopranistin Giulia Semenzato ihr Haargummi und schüttelt die Locken, während das Violoncello in geschmeidig fallenden Achtelketten die Devise spielt zu ihrer Arie „Pompe inutile“ („Unnützer Pomp“). Man hört geradezu, wie verführerisch die Haare schimmern, fehlt nur noch der goldene Kamm der Loreley. Man hört aber auch, an anderer Stelle, die Verzweiflungstränen dieser Magdalena kullern.

Viel barocke Rhetorik steckt in der Musik, die Antonio Caldara um 1700 für sein Oster-Oratorium „Maddalena ai Piedi di Cristo“ komponiert hat. Aber auch viel zeichenhafte Tonmalerei, opernartige Dramatik, venezianisch-virtuoser Geigenglanz. In einer Perlenkettenflut von Da-Capo-Arien kämpfen das Gute und das Böse um das Seelenheil der Traviata – allegorische Figuren, aber auch historische oder erfundene Personen, wie eine gewisse Marta (Marianne Kielland), ein nörgelnder Pharisäer (Johannes Weisser) sowie Christus persönlich (Joshua Ellicott), der, originellerweise als Tenor besetzt, kurz vor Schluss eingreift mit zwei kurzen Arien im mustergültigen Ritornell-Format. Jede der rund 30 Arien tönt anders. Jede ist ein Juwel für sich.

Die sechs Vokalisten agieren in der oberen Spitzenklasse

Das Freiburger Barockorchester mit seinem kunterbunten Continuo – Harfe, Fagott, Theorbe, Laute, Gambe, Cembalo, Orgel – sprüht Funken. Die sechs Vokalisten agieren allesamt in der oberen Spitzenklasse, stellvertretend sei Helena Rasker genannt, als koloraturbewegliche Vertreterin der körperlich-irdischen Liebe. Ihre Wutausbrüche sind ein Riesenvergnügen. Freilich: Die Bösen haben es ja immer etwas leichter, aufzufallen, als die Guten.

René Jacobs, der diese Crew gecastet hat, grub das vergessene Stück jetzt hartnäckigerweise zum zweiten Mal aus. Er entdeckte Caldaras „Maddalena“ vor 27 Jahren und spielte das Stück, gemeinsam mit der Schola Basiliensis, für das Label Harmonia Mundi ein, damals mit anderen Sängern, versteht sich.

Live übertrifft René Jacobs sich selbst

Mehrfach wurde dieses sensationelle Album wieder aufgelegt. Nur ein einziges Mal hat ein anderer Dirigent (Damien Guillon) einen weiteren Versuch gewagt, das Stück populär zu machen. Was Präsenz und Perfektion angeht, bleibt Jacobs aber unübertroffen, und live: Da übertrifft er sich selbst.