Duell im Sandkasten
Die Hausdächer, die sich in der Totalen knapp über die Baumwipfel erheben, gehören zu keinem Märchenschloss. Es sind auch nicht die Giebel von „Xaviers Institut für begabte Jugendliche“, der Kaderschmiede für Außenseiter:innen mit übersinnlichen Fähigkeiten aus den „X-Men“-Comics. Sie gehören lediglich zu einem typisch skandinavischen Wohnprojekt aus den sozialdemokratischen Siebzigern, halb Plattenbau, halb Brutalismus, und viel Natur drumherum.
Hierhin hat es die Eltern der neunjährigen Ida beruflich verschlagen; vor allem aber soll die Umgebung ihrer autistischen Schwester Anna helfen, die schon lange nicht mehr mit der Außenwelt kommuniziert. Ida fühlt sich von ihren Eltern vernachlässigt, manchmal kneift sie ihrer älteren Schwester nur so aus Spaß in den Unterarm; die erträgt die Schmerzen stumm.
Irgendwo zwischen Märchen und Superheldenfilm ist der unterkühlte Realismus von Eskil Vogts „The Innocents“ angesiedelt. Der norwegische Drehbuchautor hat sich einen Namen gemacht als Schreibpartner von Regisseur Joachim Trier („Louder than Bombs“), in Cannes waren sie vergangenes Jahr beide vertreten. Während im Wettbewerb Triers „Der schlimmste Mensch der Welt“ für seine Hauptdarstellerin Renate Reinsve zum Triumph wurde, lief „The Innocents“, die zweite Regiearbeit von Vogt, in der Nebenreihe Un Certain Regard, die es mit Genrefilmen gewöhnlich nicht so hat.
Gewöhnlich ist an „The Innocents“, der das Superheldengenre durch Kinderaugen betrachtet, allerdings auch rein gar nichts. Die Kids müssen ihren moralischen Kompass erst noch eichen – und können sich dabei kaum auf die Hilfe der Erwachsenen verlassen. Den alten Spider-Man-Spruch von der Verantwortung, die Superkräfte mit sich bringen, verinnerlichen die Kinder auf dem Abenteuerspielpatz zwischen den Wohnblöcken.
Außenseiter in der Hochhaussiedlung
Hier trifft Ida (die großartige Rakel Lenora Fløttum, deren undurchdringliche Miene einen frösteln lässt) auf Gleichgesinnte. Die blauen Flecken auf dem Körper von Ben (Sam Ashraf) lassen erahnen, dass der Junge maghrebinischer Herkunft gegen die älteren Kinder keinen leichten Stand hat. Die sensible Aisha (Mina Yasmin Bremseth Asheim), die mit einer Pigmentstörung lebt, spielt wegen ihrer Hautkrankheit sowieso lieber allein. Nachts schläft sie schlecht, weil sie die Stimmen der Menschen in der Häusersiedlung hört.
Es beginnt ganz harmlos mit einem Kronkorken, den Ben mittels Gedankenkraft durch die Luft katapultiert. Ida zeigt ihm dafür ihre doppelten Ellbogengelenke, die sie wie in einer Zirkusnummer verbiegt. Für das Mädchen sind der Geburtsfehler und die übersinnlichen Kräfte des neuen Freundes gleichermaßen Wunder. Erste Zweifel befallen die Neunjährige, als sich Bens Experimente gegen eine herumstreunende Katze richten.
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Vogt, der auch das Drehbuch geschrieben hat, bleibt buchstäblich auf Augenhöhe mit den Kindern. Kameramann Sturla Brandth Grøvlen zeigt ihre Gesichter oft in Großaufnahmen, was die Häuserfluchten umso überdimensionaler erscheinen lässt. Die ruhigen, fast unmerklichen Kamerafahrten beschwören, in Kombination mit dem minimalistisch-pulsierenden Soundtrack, ein Gefühl von Unbehagen herauf, das sich allmählich manifestiert.
Kinder-Horror mit Tabubruch
Aisha, die über die Gabe verfügt, telepathisch mit Anna (Alva Brynsmo Ramstad) zu kommunizieren, macht als Erste Bekanntschaft mit Bens wachsenden Superkräften. Danach verschieben sich die Allianzen zwischen den Kindern, denn auch Anna entwickelt im Verbund mit Aisha telekinetische Fähigkeit. Ein Stand-off zwischen ihr und Ben am Waldrand endet zunächst mit einer Patt-Situation. Als der Junge die Kontrolle über sein Temperament zu verlieren beginnt, wird aus dem Spiel Ernst.
(In neun Berliner Kinos, auch OmU)
Das Genre-Topos des Kinder-Horrors (mit dem Klassiker „Das Dorf der Verdammten“) dient Vogt jedoch nur als Folie, die er über eine mit blutigen Schockeffekten gespickte Coming-of-Age-Geschichte legt. Die Erwachsenen sind in „The Innocents“ nicht der Feind, sie stehen im Alltag der Kinder sogar außen vor. Ida, Anna, Ben und Aisha müssen ihre moralischen Konflikte unter sich austragen, die Grenze zwischen richtig und falsch erkennen. Das kluge Drehbuch macht diesen Konflikt in ihren wechselnden Koalitionen sichtbar.
Die Superkräfte sind am Ende vor allem erzählerisches Mittel, allerdings eines, das Vogt sehr ernst nimmt: Er schreckt nicht einmal vor dem ultimativen Tabu des Kinder-Horrors zurück. Man darf gespannt sein, wie Hollywood, wo man sich garantiert schon die Rechte am Remake gesichert hat, mit diesem Bruch von Genrekonventionen umgeht. Dass „The Innocents“ trotz der virtuosen Beherrschung der Genre-Mechanik kein kühles Stück Arthouse-Horror ist, verdankt Vogt seinem bewundernswerten Händchen für seine jungen Darsteller:innen, deren Unbehagen – angesichts von Kräften, die sie noch nicht verstehen – in ihrem aufkeimenden Zusammengehörigkeitsgefühl immer spürbar bleibt. Der Showdown auf dem Spielplatz, unbemerkt zwischen Müttern mit ihren Kindern, hat tatsächlich etwas Unschuldiges.