Gigantomanie der Erinnerung
Ein wenig Gigantomanie ist schon dabei. Auf hundert Jahre Laufzeit hat die Künstlerin Sonya Schönberger ihr Digitalarchiv „Berliner Zimmer“ in Kooperation mit dem Stadtmuseum Berlin angelegt. Auf 86 Videofilme sind die seit 2018 gesammelten Gespräche mit Frauen und Männern unterschiedlicher Herkunft und Alters bereits angewachsen.
Im Kino Kiosk des Kunstraum Kreuzberg sind bis zum Ende des Jahres von Schönberger erstellte Kompilationen der Interviews zu sehen. Im monatlichen Wechseln erzählen sechs Menschen über Themen wie „Kindheit und Aufwachsen“ oder „Kriegserfahrungen und deren Folgen“.
Oral History: Zeitzeugen erzählen
Sonya Schönberger hat nach dem Ethnologie-Studium an der Freien Universität experimentelle Mediengestaltung bei Thomas Arslan an der Universität der Künste studiert. Die seit den sechziger Jahren auch in Deutschland als Mittel der Demokratisierung der Erinnerungskultur beliebte Oral History ist ihr künstlerisches Faible.
In Form von Langzeit-Interviewprojekten mit Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs, ehemaligen russischen Kriegsgefangenen oder wie im „Berliner Zimmer“ mit Frauen und Männern, die nichts verbindet, außer der Stadt, in der sie leben. Auch bekannte Figuren wie der ehemalige Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele, die Autorin Annett Gröschner und der Wandbildmaler Werner Brunner gehören zu den Menschen, die nach Schönbergers einleitenden Fragen aus ihrem Leben erzählen.
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Den Ort, wo sie dabei gefilmt werden, bestimmt jede und jeder selber. Georgina Oswald aus Karlshorst sitzt auf einem Stuhl in den Sommerrabatten vor einem Gründerzeithaus, als sie eine blutige Episode aus ihrer Nachkriegskindheit erzählt. Ihr Spielplatz sind Ruinen. Als Munition detoniert, reißt es einem ihrer Spielkameraden die Hand ab.
Die viel jüngere Künstlerin Dagmara Genda sitzt in ihrem Weddinger Atelier und erzählt von Migrationserfahrungen in Kanada, wohin sie als Kind mit den Eltern aus Polen zog. Vom Aufwachsen auf unbekanntem Terrain kann auch der Kreuzberger Özkan Elicekli als Gastarbeitersohn ein Lied singen.
Im Bethanien sind sechs Stimmen gegeneinander geschnitten
Anders als bei den auf der Webseite www.berliner-zimmer.net anschaubaren Einzelinterviews, öffnet sich im Zusammenschnitt der Gespräche, denen man im Bethanien über mehrere Stunden folgen kann, ein zusätzlicher Erfahrungsraum. Der einer Begegnung einander unbekannter Menschen im „Berliner Zimmer“ nämlich. Muße zuzuhören, braucht es aber schon dafür.
Schönbergers Idee, den Menschen der Stadt eine Stimme zu gehen, soll im Verein mit dem Stadtmuseum weitergehen. Irgendwann werden die Erzählungen transkribiert, verschlagwortet und damit für die Forschung zugänglich sein. Auf dass wenigstens die Historiker der Zukunft endlich begreifen, was diese Stadt und ihre Bewohner und Bewohnerinnen umtreibt.