China präsentiert sich aufreizend bescheiden
Eis ist eine reizvolle und schwierige Metapher. Wenn es trägt, gleitet man elegant davon, wenn nicht, bricht man ein. Eis kann tödlich sein – oder ein Riesenspaß. Ein Sprichwort sagt: Jeder kehre den Schnee vor seiner Tür und kümmere sich nicht um das Eis, das auf dem Dach des Nachbarn liegt.
Das passt zu den 24. Olympischen Winterspielen in China. Die Großveranstaltung steht auf, nun ja, recht dünnem Eis. Es herrscht olympische Friedenspflicht, Politik soll keine Hauptrolle spielen, aber das war schon vor 2500 Jahren in Griechenland nicht anders. Für die Stadtstaaten damals ging es in Olympia um Prestige und Macht, die Athleten kämpften um Ruhm und nicht weniger um materielle Werte.
Wie ein diplomatischer Parcours wirkt die Eröffnungsfeier im „Vogelnest“ von Peking – angesichts der Weltlage, die sich beim Auftritt der 91 Delegationen, darunter „Chinese Taipeh“ (IOC-Sprech für Taiwan) und „Hong Kong, China“, der Ukraine und des „Russian Olympic Committee“, nicht ausblenden lässt.
Es ist die Inszenierung einer Inszenierung. Der Auftakt war auf den kalendarischen chinesischen Frühlingsanfang gelegt, den 4. Februar. Winterspiele als Tauwetterperiode, das zeigt die Ambivalenz der globalen Sport-Schau.
Ein riesiger Eisblock, abgeschmolzen von Laserstrahlen, zerschossen von einem mächtigen digitalen Eishockey-Puck – ein zentrales Bild.
IOC-Präsident als “Freund des chinesischen Volkes”
Aus dem Eis steigen die Olympischen Ringe auf. Sie hängen über dem Tor, durch das die 91 Abordnungen gehen. Erst am Ende, als die chinesischen Wintersportler einziehen, gekleidet wie Schneeweißchen und Rosenrot, kommt etwas Jubel auf bei den 25000 ausgewählten Zuschauerinnen und Zuschauern.
Staatspräsident Xi Jinping und seine Gattin tragen Maske, ebenso IOC-Präsident Thomas Bach, den Xi einen „Freund des chinesischen Volks“ nennt. Die Pandemie hängt wie die Drohung eines Schneesturms über diesen „grünen, gemeinsamen, offenen und sauberen Spielen“. Die verspricht der Chef des Organisationskomitees. Man wolle ein neues Kapitel in der „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit aufschlagen“.
Thomas Bach lobt China jetzt bereits als ein „Land des Wintersports“. Auch er wird eisblumig historisch, es beginne nun ein neues Zeitalter. Mission und Aufgabe der Olympischen Spiele sei es, Brücken zu bauen und Menschen zu vereinen, in Frieden. Er sagt: „Give Peace a Chance“. Nachher läuft nochmal John Lennon – „Imagine“.
Es ist eine seltsame Koinzidenz. Vor gut zwei Jahren wurde das Covid-19-Virus aus der chinesischen Stadt Wuhan publik – und fürchterlich unterschätzt, auch weil China Informationen unterdrückte. Wie mulmig einem werden kann bei all diesen fein kaschierten Hintergründen, das machen die ZDF-Journalisten Nils Kaben und Ulf Röller bei der Übertragung der zweistündigen Eröffnungsveranstaltung deutlich.
Da wird nach der „Verlogenheit“ des IOC gefragt. Ein schönes Fest sei es, aber nicht die Realität.
Auf dem 11000 Quadratmeter großen Riesenfernseh-Screen, der den Innenraum des Stadions bedeckt, scheinen Bilder aus der Pandemie auf, Menschen in Schutzkleidung. Eisläufer ziehen darüber und fegen den Schnee weg. Die Botschaft einer zusammenstehenden, einer friedlichen Welt wird mächtig ausgerollt von einem Land, das Propaganda kann.
Dafür eignen sich die süßen Kinder, die singen und die chinesische Flagge tragen und auf Videos durch den Schnee tollen, ganz besonders. Im Stadion wedelt auch noch ein Kinderchor mit weißen Tauben.
Und die Schneeflocken fallen. Sie sind das andere Symbole dieser Eröffnungsfeier. Eine Schneeflocke für jedes teilnehmende Land.
Der Regisseur heißt wie schon 2008 Zhang Yimou. In Peking brennt das olympische Feuer jetzt zum zweiten Mal. War bei der Eröffnung der Sommerspiele vor vierzehn Jahren ein Heer von 15000 Trommlern und Akrobaten am Start, fällt die Schau diesmal auffällig bescheidener aus. Wieder großes Feuerwerk, aber kürzer, weniger Donner und Blitz, der Umwelt zuliebe, heißt es.
Das Bild der Schneeflocke prägt sich ein. Was wäre vergänglicher, weniger haltbar?
Paradigmenwechsel im Vergleich zu 2008
Und was für ein Paradigmenwechsel im Vergleich zum Jahr 2008, als China eine protzige Masseninszenierung in die Welt hinausschickte, eine Demonstration von Masse und Macht, da war der Mensch auf dem Feld bloß dekoratives Rädchen im Getriebe.
Anders jetzt. Kinder formen ein großes Herz, die Stimmung soll märchenhaft sein, für westliche Augen hat das chinesische Frühlingsfest etwas Weihnachtliches. China zeigt sich fast aufreizend zurückhaltend, souverän, aus einer Position stetig wachsender Stärke. Ist das die neue Weltmacht, die sich mit olympischem Segen als Friedensbringerin präsentiert?
„Frieden und Sozialismus“, das kennt man noch gut aus der DDR und der Sowjetunion. Wladimir Putin soll übrigens im Stadion gewesen sein, spielt im Fernsehen aber keine Rolle. Die Feier hat am Ende einen arg süßlichen, klebrigen Geschmack. Und natürlich: Da waren schöne Bilder. Da waren bewegende Momente.
Aber wenn immerzu von Frieden und Gemeinsamkeit und Harmonie die Rede ist und die diesmal wirklich freundlicheren, weniger martialischen Massenszenen die neue Gemeinsamkeit dick unterstreichen, dann kommt es nicht nur ziemlich plötzlich, sondern auch plump.
Das Frühlingsfest läutet das „Jahr des Tigers“ ein. Der steht für Kraft und Mut und Selbstbewusstsein. Auch das passt.