Taliso Engel springt ins paralympische Wasser
Jede Schlagzeile ein neuer Weltrekord, eine neue Bestleistung oder ein gewonnener Wettkampf – Taliso Engel ist auf der Überholspur. Der Para Schwimmer heimst einen Erfolg nach dem nächsten ein. Selbst seinen größten Gegner, den belarussischen Schwimmer Ihar Boki, schlug er bereits im Mai bei der EM auf Madeira mit knapp zwei Sekunden Vorsprung. Kann sich der 19-jährige Leistungssportler überhaupt noch steigern? „Klar ist da noch Luft nach oben“, sagt Engel. Er ist ehrgeizig und steht am Anfang seiner Sportlerkarriere, trotzdem gibt er auch ganz offen zu: „Im Frühjahr hatte ich einige Wettkämpfe, die wirklich grottig liefen.“
Per Videotelefonat gibt der Schwimmer vor den Paralympics in Tokio einen Einblick in sein Leben: Engel sitzt in seinem Zimmer, er trägt On-Ear-Kopfhörer, ein schwarzes Shirt und seine braunen Haare sind leicht gewellt. An der Wand hinter ihm hängen blaue und schwarz-rot-goldene Bänder – Medaillen, die Zeugnisse seines Erfolgs. Wird er darauf angesprochen, grinst er und Grübchen bilden sich um seine Mundwinkel „Die Wichtigsten habe ich hängenlassen, alle anderen sind in Kartons verstaut, das wurde mir etwas zu viel.“
Zwischen Abitur und Leistungssport
Taliso Engel ist auf dem Boden geblieben. Gerade erst hat der Schwimmer sein Fachabitur geschrieben, doch statt sich auszuruhen, belegt er einen Spanisch-Kurs und arbeitet an seiner Seminararbeit, denn nach den Paralympics ist vor dem Voll-Abitur. Dazu kommen bis zu neun Trainingseinheiten an sechs Tagen die Woche – voll mit Schwimm- und Kraftübungen. Bekommt man bei so viel Training überhaupt noch mal Muskelkater? – Sicher, meint Engel. Doch für seinen Traum, die Teilnahme bei den Paralympics, nimmt er das in Kauf.
Bereits 2018, damals ist Engel noch 15 Jahre alt, sind die Spiele in Tokio Thema in einem Interview. „Es ist schon ein krasses Gefühl, wenn man so viele Jahre auf etwas hinarbeitet und dann kurz davorsteht“, verrät der Schwimmer. Trotzdem versucht er sich wenig Druck zu machen, sein Ziel: Bestleistungen schwimmen und es – wenn möglich – unter die Top drei schaffen. Auch seine Gegner, wie den 16-fachen Goldmedaillen-Gewinner Ihar Boki, unterschätzt er nicht: „Ich glaube nicht, dass ich durch mein Alter einen Vorteil gegenüber Boki habe. Natürlich möchte ich unbedingt meine erste paralympische Medaille gewinnen, aber seine Erfolge geben ihm viel Sicherheit und er kommt immer sehr ruhig rüber“, so Engel.
Teamspirit im Individualsport
Bei den Paralympics stehen für den Schwimmer mit Sehbehinderung vier Wettkämpfe auf dem Plan. Drei davon hat er schon hinter sich, erreichte über 400 Meter Freistil und 200 Meter Lagen Platz sechs, für das Finale über 50 Meter Freistil konnte er sich nicht qualifizieren. Das wichtigste Rennen steht allerdings noch aus: Am Mittwoch geht er über 100 Meter Brust an den Start und als der amtierender Europameister auf der Strecke kann sich Engel durchaus Medaillenchancen ausrechnen. Mit Trainer Jochen Stetina standen deshalb in seinem Verein, dem 1. FC Nürnberg Schwimmen, in den Wochen vor den Spielen, besonders Renntaktik und verschiedene technische Aspekte auf dem Trainingsplan. „Taliso ist fokussiert und ehrgeizig. Klar, ist er auch für jeden Spaß zu haben, aber die erste Mannschaft des FCN ist eine Leistungsklasse, alle unsere Sportler sind zielstrebig und Taliso fügt sich gut in die Gruppe ein“, meint Stetina.
Engel trainiert gerne gemeinsam mit seiner Mannschaft – alleine falle es ihm schwerer, erzählt er. Zudem sind viele Mannschaftskollegen mittlerweile langjährige Freunde. „Viele denken, beim Schwimmen ist der Teamspirit nicht so ausgeprägt, weil es eine Einzelsportart ist, aber wir unterstützen uns gegenseitig und feuern uns auf Wettkämpfen an“, so der Schwimmer. Kurz bevor er bei einem Wettkampf an den Start geht, hört er Musik – um sich zu beruhigen oder zu pushen, je nach dem, was er gerade braucht. Im Rennen selbst denkt er an nichts, verlässt sich mehr auf sein Gefühl. „Man spürt es, ob es grade gut läuft oder eher nicht“, so der Sportler. „Außerdem hat man bei nur 100 Metern auch nicht viel Zeit zum Nachdenken“, ergänzt er.
Sauna im Keller hilft beim Entspannen
Weil seine Mutter wollte, dass er richtig schwimmen lernt, meldete sie ihn schon als Kind im Schwimmverein an – heute mit Beginn der Paralympics ist Taliso Engel deutsche Medaillenhoffnung. Ganz schön viel Stress für den 2002 im Lauf an der Pegnitz geborenen Sportler? „Taliso hat ein sehr gutes Gespür dafür, inwieweit er sich belasten kann. Für sein Fachabitur lag seine Priorität auf der Schule, jetzt liegt sie wieder auf Tokio“, erzählt Mutter Cosima Engel. Der Schwimmer selbst sagt, er könne am besten entspannen, wenn er sich – was neben dem Training nicht einfach ist – mit Freunden trifft, ansonsten „haben wir jetzt eine Sauna im Keller“, fügt Taliso Engel grinsend hinzu. Auch wenn der Druck steigt, versucht Engel sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Schafft er es, auch bei den Paralympics einen kühlen Kopf zu bewahren, dürften bald weitere Schlagzeilen seines Erfolgs die Zeitungen füllen.
Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier.