Es war einmal in Kakanien
Es war Claus Peymann, der das Wort zuletzt bedenkenlos in den Mund genommen hat. 1997, noch als Wiener Burgtheater-Direktor, nannte er den damaligen Berliner Kultursenator Peter Radunski einen „Zigeunerbaron“. Der ätzende Spitzname blieb an dem CDU-Politiker weit über das Ende seiner Amtszeit hängen. Allerdings waren die Operettenkenntnisse des späteren BE-Intendanten nur rudimentär: In Johann Strauß 1885 uraufgeführtem Evergreen wird der Titelheld nämlich durchweg positiv dargestellt. „Als flotter Geist doch früh verwaist, hab’ ich die ganze Welt bereist“ sind seine ersten Worte, im Gegensatz zu allen anderen Figuren des Stücks tritt er den Roma, die auf seinem Gutsbesitz leben, offen entgegen – und wird von ihnen dann auch als „Woiwode“ anerkannt, als ihr Anführer. Weshalb er sich gegenüber den standesdünkelhaften Dorfbewohnern ironisch als „Zigeunerbaron“ bezeichnet.
Wen Claus Peymann aus dem Personal der Operette bei seiner Radunski-Schmähung eigentlich meinte, war der bauernschlaue Großgrundbesitzer Zsupan. Ein Mann von äußerst schlichtem Gemüt, der in seiner Auftrittsarie freimütig bekennt: „Ja, das Schreiben und das Lesen, das ist nie mein Fach gewesen. Denn schon von Kindesbeinen befasst ich mich mit Schweinen.“ Um dann auszurufen: „Mein idealer Lebenszweck sind Borstenvieh und Schweinespeck!“ Das ist die Art von Jovialität, die in der Tat auch den Kultursenator Radunski auszeichnete.
Unglaublich, aber wahr: Das Stück mit dem heute unaussprechlichen Titel stand noch 1971 in der Statistik des Deutschen Bühnenvereins tatsächlich auf Platz 1 der Operettenhitparade. In Berlin ist es in den letzten Jahrzehnten aber nur selten gespielt worden. Die letzte Neuproduktion entstand 1994 im Metropoltheater – das später dann ausgerechnet von Peter Radunski liquidiert wurde. 1985 hat Winfried Bauernfeind das Werk mit den vielen Ohrwürmern am Theater des Westens inszeniert. Eine Tourneeversion, die 1981 im ICC gastierte, konnte immerhin Ivan Rebroff als Schweinezüchter aufbieten. Zuletzt war der „Zigeunerbaron“ um die Jahrtausendwende als folkloristisch-buntes Kostümspektakel im Schillertheater zu sehen, auf Deutsch dargeboten von Künstler:innen aus dem polnischen Lodz.
Und jetzt startet also die Komischen Oper ihren Post-Lockdown-Spielbetrieb ausgerechnet mit dieser Operette? Das aufgeklärteste, diversitätssensibelste Musiktheater der Hauptstadt? Es war der Regisseur Tobias Kratzer selbst, der Barrie Kosky den Vorschlag dazu gemacht hat. Und der Intendant stimmte zu, sicher auch im Vertrauen darauf, dass Kratzer mehr zu dem heiklen Sujet einfallen würde als nur eine Verschiebung der Anführungsstriche, wie sie jetzt auf der Website zu lesen ist: Als dem „Zigeunerbaron“ wird dort der „Zigeuner“baron.
Mit seinem lässigen „Tannhäuser“ hat der 1980 geborene Kratzer vor zwei Jahren einen Riesenerfolg bei den Bayreuther Festspielen gelandet, an der Komischen Oper war von ihm bereits eine Deutung der französischen Barockoper „Zoroastre“ von Jean-Philippe Rameau zu sehen. Er möchte an der Behrenstraße die Geschichte des Johann-Strauß-Hits nun „aus der Perspektive der reaktionärsten Figur des Stücks“ erzählen. Graf Homonay, postuliert der Regisseur, klammert sich verzweifelt an „die alte Ordnung“ der Donaumonarchie und hört darum auf offener Bühne Schellackplatten auf einem Grammophon, während er ein Paprikaschnitzel vertilgt.
Die im Libretto angegebene Zeit der Handlung „Mitte des 18. Jahrhunderts“ muss in der Inszenierung also deutlich nach vorne verschoben sein, bis kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Ganz klar wird das optisch allerdings nicht, denn Ausstatter Rainer Sellmaier mixt fröhlich historische Möbel und Uniformen mit heutigen Elementen wie Metalldetektoren und Campingzelten.
Vor allem aber steckt er das komplette zivile Personal in einen schwarzweißen Einheitslook. Und neutralisiert damit den Grundkonflikt. Wer hier zu welcher Volksgruppe oder Gesellschaftsklasse gehört, ist nicht erkennbar. Das vermeidet zwar denunzierende Exotik, verunklart aber auch, wohin dieser Abend interpretatorisch will.
Bei Johann Strauß wird die Roma-Sphäre als attraktiver Gegenentwurf zur Spießerwelt des Schweinezüchters Zsupan dargestellt. Sandor Barinkay, der Titelheld, der aus seinem abenteuerlichen Exilantendasein in eine ihm fremde Heimat zurückgekehrt ist, um das väterliche Erbe anzutreten, weigert sich, die ihm zugedachte Stellung als Gutbesitzer einzunehmen. Er schlägt sich auf die Seite der Ausgegrenzten, deren Freiheitsdrang seinem eigenen Charakter näher ist.
In Tobias Kratzers Inszenierung dagegen bleibt diffus, was Barinkay bewegt. Weil die Grenzen zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten zur Unkenntlichkeit verwischt sind. Arg müde gerät auch die Militärkritik, wenn der Regisseur im dritten Akt lediglich erschöpfte Husaren über die Bretterbühne trotten lässt. Wortwitz, Leichtigkeit und Ironie fehlen ganz in dieser auf 100 Minuten eingedampften Fassung.
Hinzu kommt, dass die Sänger und Sängerinnen darstellerisch noch sichtbar eingerostet sind nach den langen Monaten ohne Spielpraxis. Ausgerechnet Philipp Meierhöfer erweist sich in der Schweinezüchter-Rolle so gar nicht als Rampensau, sondern bleibt ein blasser Hanswurst. Zudem muss er verstummt mit ansehen, wie zu seiner berühmtesten Arie ein Video angespielt wird, während die Musik vom Band läuft.
Äußerst unbefriedigend ist auch, dass der Chor, der hier musikalisch viel zu tun hat, von der Szene verbannt ist. Mal wird er nur via Lautsprecher eingespielt, mal bevölkert dabei zumindest ein Häuflein Statisten die Bühne. Zur Background- Band degradiert sieht sich auch das Orchester der Komischen Oper. Die Musiker:innen spielen wacker unter dem befeuernden Dirigat von Stefan Soltesz, der viel Wert auf rhythmische Akkuratesse legt, aber auch Walzerschwelgerei zulässt. Doch ihr Zusammenklang will sich akustisch nicht recht entfalten, weil sie statt in ihrem Graben hinter der Spielfläche platziert sind. Dort behindert die Schallwellenausbreitung zudem ein Arkadengang mit einer eher mäßig gelungenen Kopie jener gipsernen Atlanten-Skulpturen, die den 2. Rang des Zuschauerraumes zieren.
Dominik Köninger bleibt steifbeinig als Graf Homonay, der aus dem Ensemble der Deutschen Oper ausgeliehene Thomas Blondelle vermag dem szenisch so unklar gezeichneten Titelhelden immerhin vokale Pracht zu verleihen. Mirka Wagner findet für die Saffi besonders in den leisen Passagen warm leuchtende Soprantöne, Julian Habermann ist ein Ottokar mit süßem Jünglingstimbre und Helene Schneidermann schließlich versteht es als Mirabella, in den Couplets über die „Schlacht von Belgrad“, die blöden „Bumm, bumm“-Einwürfe, zu denen sie das Textbuch zwingt, schlüssig in ihr Spiel einzubinden.
Wieder am 26. und 28. 6. sowie 1. 7.