Die vitale Kraft des Opportunismus
Anders als die sozialistischen Diktaturen war der Nationalsozialismus mehrheitsfähig in der Bevölkerung. Die Zustimmung war allerdings immer davon abhängig, dass das Regime lieferte: auftrumpfende Außenpolitik, nationales Hochgefühl, Revisionen der vielfach verhassten Bestimmungen des Versailler Vertrages, Sozialleistungen, erfolgreiche „Blitzkriege“. 1941, nach dem schnellen Sieg über Frankreich, erreichte die Hitler-Euphorie ihren Gipfel. Selbst viele vormalige Skeptiker bekannten sich nun zum Nationalsozialismus.
Im Sommer 1945 war es für amerikanische Reporter dagegen fast unmöglich, noch überzeugte Anhänger des Dritten Reiches zu finden. Niemand wollte es gewesen sein; man wies allenfalls auf die Nachbarn. Wer also waren die Nationalsozialisten? Fast alle oder fast niemand? Die erklärenden Narrative wechselten im Lauf der Jahre, wie der 1951 geborene Historiker Ulrich Herbert in seiner exzellenten Aufsatzsammlung „Wer waren die Nationalsozialisten?“ zeigt. Nach 1945 wollte man sich zunächst einreden, dass die Deutschen von einer politischen Verbrecherclique verführt worden seien.
[Ulrich Herbert: Wer waren die Nationalsozialisten? Verlag C.H. Beck, München 2021. 309 Seiten, 24 €.]
Die Handlager beim Völkermord und bei den Kriegsverbrechen waren, so Konrad Adenauer 1952, ein „kleiner Prozentsatz von absolut asozialen Elementen“ und Kriminellen. So wurden die NS-Täter als verrohte Minderheit „aus der deutschen Gesellschaft exmittiert“, schreibt Ulrich Herbert.
Verzerrte Perspektive auf die Gescheiterten
Auch die sozialgeschichtliche Forschung habe in den folgenden Jahrzehnten dieses einseitige Bild bestätigt: Zu den Nazis gingen demnach die Gescheiterten und Marginalisierten, von Abstiegsängsten verwirrte „Kleinbürger“ und die Soldaten des Ersten Weltkriegs, die nie im Frieden angekommen waren. Die honorige bürgerliche Gesellschaft musste sich nicht verantwortlich fühlen.
Der Nationalsozialismus, der die Welt erschütterte, so Herbert, war jedoch nicht jener der frühen SA-Kneipenschläger; es war der Nationalsozialismus des Vernichtungskrieges und des Judenmords, der von „Männern mit erstklassiger Ausbildung“ und meist gutbürgerlichem Hintergrund organisiert wurde.
Wie kaum ein anderer Historiker hat sich Herbert mit der irritierenden Paradoxie befasst, die darin liegt, dass eine weitgehend identische Verwaltungselite zuerst den nationalsozialistischen Staat und dann die Bundesrepublik aufbaute. Die anfangs umfassenden alliierten Bestrafungs- und Entnazifizierungsmaßnahmen wurden bald entschärft, stattdessen bot man den ehemaligen Tätern, sofern sie nicht zu bekannt waren, die Eingliederung in die neue Gesellschaft an.
Zwar gab es auch Nationalsozialisten, die von ihrer Ideologie nicht lassen wollten. Die klügere Mehrheit aber startete in eine zweite, bürgerliche Karriere, deren Bedingung es war, auf jede neo-nationalsozialistische Aktivität zu verzichten. Und was anfangs vielleicht bloße Anpassung an die neuen Spielregeln war, wurde im Lauf der Jahre bei nicht wenigen zur demokratischen Überzeugung. Auch deshalb, weil die Bundesrepublik nachhaltigere Erfolge aufweisen konnte als der zwar hochdynamische, aber zu keiner politischen Stabilisierung fähige NS-Staat.
Abtauchen in die Bürgerlichkeit
Das Abtauchen in die Bürgerlichkeit war auch deshalb möglich, weil das Detailwissen über die Führungsstrukturen vieler NS-Organisationen und die Beteiligung der akademischen Eliten an den Verbrechen „im Osten“ sich erst seit den sechziger Jahren verbreitete.
Während viele Linke (erst recht in der DDR) meinten, dass die Nazis unverbesserlich seien und in der BRD subversive Aktivitäten entfalteten, sieht Ulrich Herbert bei vielen ehemaligen Nationalsozialisten diesen „Einstellungswandel“. Er war ein wichtiger Faktor bei der Stabilisierung der Bundesrepublik, auch wenn er mit einem moralischen Skandal verbunden war: Angesichts der vielen Millionen NS-Opfer kam die verantwortliche Elite mit vergleichsweise milden Strafen davon. Kein Zweifel, die junge Bundesrepublik gründete nicht auf Gerechtigkeit, sondern auf der vitalen Kraft des Opportunismus.
Herberts Aufsätze beeindrucken durch ihre Präzision. Gerade weil sie von analytischer Distanz gekennzeichnet sind, können sie die Beweggründe der damals beteiligten Menschen nachvollziehbar machen. Der Nationalsozialismus erscheint dadurch als politische Versuchung, der auch und gerade die gebildete Schicht erlag.
Im Aufsatz „Der deutsche Professor im Dritten Reich“ stellt Herbert anhand der Lebensläufe von vier prominenten Wissenschaftlern aus verschiedenen Fakultäten die bereitwillige Anpassung an ein Regime dar, das dem wissenschaftlichen Ethos, sofern man darunter besonnene Argumentation, Kritikfähigkeit, Bildung und Belesenheit versteht, eher feindlich gegenüberstand.
Robuste Kirchenfeindschaft
Bereits 1938 waren jedoch mehr als fünfzig Prozent der deutschen Professoren Mitglieder der NSDAP. Ein wichtiges Erklärungsmuster liegt für Herbert in der Teilidentifikation. Man war im Ganzen mit der Richtung des Nationalsozialismus einverstanden, war beeindruckt von den außenpolitischen Erfolgen Hitlers und der Erholung der Wirtschaft nach zwei Jahrzehnten der Dauerkrise, pflegte aber doch eine gewisse Ambivalenz und haderte in einzelnen Punkten mit dem Regime, etwa mit seinem robusten Auftreten, seiner Kirchenfeindschaft oder dem Antisemitismus. Letzterer eröffnete – wegen der Entlassung zahlreicher jüdischer Wissenschaftler aus dem Hochschuldienst – allerdings gerade den nachstrebenden Akademikern und Habilitierten reizvolle Karriereperspektiven.
Es gehört zu den Verdiensten des Historikers Ulrich Herbert, dass er in den achtziger Jahren das damals noch vernachlässigte Thema der zehn Millionen Zwangsarbeiter in der deutschen Kriegswirtschaft erschlossen hat. Ohne die Zwangsarbeiter, schreibt er auch in einem Aufsatz dieses Bandes, wäre NS-Deutschland ab 1941 kaum noch kriegsfähig gewesen.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Er widerspricht dagegen der landläufigen These von der polykratischen „Kompetenzanarchie“ im Dritten Reich, die zu einer wachsenden Dysfunktionalität des Staates geführt habe: „Anders als in der Sowjetunion gab es in Deutschland bis in die letzten Tage des Krieges hinein einen hochdifferenzierten und effizienten Staatsapparat.“ Auch die Vorstellung vom „industriellen“ Judenmord korrigiert er. Lange Zeit habe der Holocaust eher in Form „apokalyptischer, geradezu archaischer Massaker“ stattgefunden, an denen Tausende SS-Männer, Soldaten und Polizisten beteiligt waren.
Ob Ulrich Herbert die anfangs erheblichen, später zunehmend verwischten Unterschiede zwischen nationalsozialistischen und sowjetischen Lagersystemen aufzeigt („Ordnungshölle“ versus „Inferno der Willkür“), ob er die zehn Eskalationsstufen auf dem Weg zum Holocaust definiert oder die antihumanitäre Logik des Nationalsozialismus konsequent aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs ableitet: Immer bieten seine Aufsätze eine über das verbreitete historische Wissen hinausgehende Erklärungstiefe. Nicht um originelle Thesen geht es diesem Freiburger Historiker, sondern um die Komplexität der Zusammenhänge.