Der Kampf gegen das Veralten im Alter
Das Buch des Jahres stammt von einem alten, weißen Mann. Er ist nicht um die 50, wie die jüngeren der alten, weißen Männer, sondern er ist fast doppelt so alt. Kann man mit 97 Jahren noch ein Buch schreiben, sogar ein so waches und irgendwie junges?
Günther Rühle, der vielleicht berühmteste Theaterchronist des letzten Jahrhunderts, hat es vollbracht. Er prägte das Feuilleton der FAZ und war später ein couragierter Intendant am Schauspiel Frankfurt/Main. Seine zwei Bände „Theater in unserer Zeit“ sind Standardwerke, es geht um die Jahre der Weimarer Republik, um das Theater nach der Nazi-Diktatur, um die sechziger und siebziger Jahre.
Nun hat er, nach acht Bänden über Alfred Kerr, noch ein neues Werk geschafft, ein Tagebuch: „Ein alter Mann wird älter“ (Alexander Verlag, Berlin 2021, 232 S., 22,90 €, herausgegeben von Gerhard Ahrens), geradezu ein Standardwerk über das Altsein, über den Versuch im Alter nicht „zu veralten“, wie Rühle es nennt.
Eigentlich wollte er den dritten Band seiner Theaterhistorie schreiben, aber dafür fehlte ihm das Augenlicht, um zu recherchieren, kurz vor Claus Peymann und dessen berühmter „Hermannsschlacht“ musste er aufhören. Rühle vergleicht sich mit dem Altertumswissenschaftler Mommsen, der seine „Römische Geschichte“ ebenfalls abbrechen musste, und legt stattdessen ein Tagebuch vor.
Der Geist ist wach, hungrig, verlangt nach Austausch
Man spürt bei jedem Eintrag von Oktober 2020 bis April 2021 diese unfassbare Energieleistung, fast blind, mit zwei Fingern getippt, 220 Seiten.
Ich selbst wurde von Rühle, der in den 1990er Jahren Tagesspiegel-Feuilletonchef war, als Volontär in diese Zeitung geholt und habe dabei immer das „Rühlesche Leistungsprinzip“ bewundert.
Wie dieser Mann in kürzester Zeit Texte schrieb und die Ereignisse und Zusammenhänge der Welt ordnete, klärte, konturierte, er fand überall das Wesentliche. Und wenn nun die zu ordnende Welt wegfällt und nur noch das Alter übrigbleibt?
Er erinnert sich an das Ende souveräner, großer Männer wie den berühmten Germanisten Walter Jens oder den Kritiker Joachim Kaiser. „Außer Dienstgestellte zu Lebzeiten, der hohe Geist verloschen, ohne den Körper mitzunehmen.“ Bei Rühle ist es umgekehrt, der Körper streikt mehr und mehr, der Geist ist aber wach, hungrig, nach Austausch, aber wer ruft noch an, wer lebt noch?
Immer wieder zwischen dem Tablettensalat die Suizidgedanken. „Leise Wonne im Übergang“: anderswohin, doch dann rebelliert der Rest des Lebenswillens. „Plötzlich singt man laut ins leere Haus, in dem die Vergangenheit stillsteht.“
Er wendet Becketts Endspiel ins Positive
Unglaubliche Sätze. Er stellt den Wecker und fragt sich sogleich, ob man mit 97 noch einen Wecker braucht. Das plagende Verlangen, aktiv und sinnvoll in der Welt zu sein. Das Wachwerden in der Nacht, der letzte Lebenskampf mit der Bettdecke. Dann das nicht mehr schlafen Können und trotzdem müde Sein. „Lebensmüdigkeit ist auch eine körperliche Wahrheit … Man wird müde in den bald grauenden Tag gehen, der selbst nichts anderes hervorbringt als den Wunsch nach einer guten Nacht.“
Tagsüber sein Kampf mit der Mikrowelle, der Spülmaschine und mit dem Computer, das versehentliche Löschen des Tagebuchs und die verzweifelte Suche nach der Rückgängig-Taste. Er will Karl Jaspers auf einer Schallplatte hören, einen Vortrag über die Gefahren des anbrechenden Atomzeitalters, doch der Tonarm fällt nach dem achten mahnenden Jaspers-Satz ab. Er lässt sich den Vortrag auf CD besorgen und zählt die Knopfdrücke, bevor ein Ton von Jaspers kommt, er zählt alle 141 Knöpfe und Einstellungen im Haus, die er betätigen muss, um noch von dieser Welt zu sein.
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Dabei hat er einen wunderbar leisen und friedlichen Ton mit sich selbst. Eintrag, 7. Dezember 2020: „Man sammelt den ganzen Tag Symptome des Fortschritts ins Ende. Jetzt drück ich schon die Paste morgens neben die Zahnbürste. Ich schüttelte dann friedlich den Kopf und sage: Na ja.“
Und seine Beobachtungen in der quälenden Verlassenheit, „mit diesen Stößen von Unmut und Zorn, in denen ich auch meinen Vater und die Mutter zurückließ, als ich ins eigene Leben aufbrach, und was ich versäumt habe im eigenen Vielerei.“ Nun ist ihm selbst das Vielerei abhandengekommen: die Redaktionssitzungen, die Kritiken, das Theater, die Aufführungen, die Figuren, Leidenschaften und Dramen. Kein Reich-Ranicki mehr, kein Zadek, kein Wildgruber, keine „Othello“-Aufführung mehr, nur noch Rühle. Und vielleicht der beste, berührendste, den es je gab.
Und immer wieder die Frage: Wie kämpft man gegen das „Veralten im Alter?“ Er nimmt sich vor, 100 zu werden, trotz Corona, er konstatiert, dass er dagegen ja jetzt noch recht jung sei; er rechnet nachts im Bett liegend, dass er bei seinem fünffachen Wasserlassen pro Tag von jetzt an 150 Mal im Monat bzw. 6000 Mal, bis er 100 Jahre alt geworden ist, ins Badezimmer geht – das sei doch eine „beträchtliche Leistung und bewegende Zukunft“.
Ein Glas mit roter Grütze
Es gibt viele solcher Stellen im Buch, Widerstände gegen das Veralten. Ein Endspiel, aber eines, das im Gegensatz zu Beckett, ins Positive gewendet ist, ins Würdevolle, sogar manchmal wundervoll Heitere. Oder Surreale.
Nachts träumt er, dass seine Beine fliegen, nach Delphi, zum Kap Sounion und sonnen sich. Plötzlich sitzt Claus Peymann neben seinen Beinen und zeigt ihnen ein Programmheft von seiner „Braut von Messina“-Inszenierung. Ob er das Stück denn überhaupt gelesen habe?, fragen Rühles Beine.
„Nein“, sagt Peymann. Offenbar äußert Rühle noch in seinen surrealen Träumen Kritik am Gegenwartstheater, das seiner Meinung schon lange nicht mehr richtig Dramen lesen kann.
Oder Rühle richtet sich nachts um 02:05 im Bett auf, weil ihm ein Reim gekommen ist: „Meines Lebens süßeste Stütze ist ein Glas mit Roter Grütze.“ Wer wacht um 2.05 Uhr in der Nacht auf und sagt solche erschütternd-schönen Sätze?
In einer der zartesten Stellen des Buchs beschreibt er seine Nachbarin, in Bad Soden, ebenfalls alt geworden. Rühle sieht sie im Rollstuhl, auf der Straße von einer Kroatin geschoben. Sein ganzes Leben schrieb er über Noelte und Neuenfels, Ibsen, Brecht und Bernhard Minetti, jetzt steht er am Fenster und beobachtet seine Nachbarin: „Früher ging sie immer in die Kirche. Sie wird ein großes Begräbnis haben“, und er hofft, dass ihr Glaube ihr helfen möge im Sterben.
Moritz Rinke lebt als Schriftsteller in Berlin. In diesem Jahr erschien sein Roman „Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández Garcia“ (Kiepenheuer & Witsch).