Verschiebungen im Machtgefüge: Marius von Mayenburg am Berliner Ensemble
So ein Scheiß“, bricht es irgendwann aus Wolfram heraus, „dieses ganze Blabla von wegen Trennung von Privatleben und Beruf, Work-Life-Schwachsinn, ich bin ja nicht bescheuert!“ Man kann an dieser Stelle schwer umhin, Wolfram recht zu geben. Auch, wenn er sich ansonsten ausdrücklich nicht als Sympathieträger der Dreier-Runde empfiehlt, die Marius von Mayenburg in seinem Stück „Ellen Babić“ am Berliner Ensemble zum Problemgespräch versammelt.
Denn für Astrid, die Adressatin von Wolframs Attacke, ist die penible Work-Life-Grenzziehung zwar angeblich eine Frage der „Hygiene“. Aber daran, dass Wolfram – der ihr Chef ist – ausgerechnet in ihrem Wohnzimmer sitzt und literweise Weißwein in sich hineinschüttet, während er über einen beruflichen „Vorfall“ spricht, ist Astrid ja nun nicht unschuldig. Sie selbst hatte ihn eingeladen, wenn auch – erklärtermaßen – unter anderen Vorzeichen.
Aber was lässt sich hier schon sicher sagen? Das Ambivalente und Grauzonale, der Widerspruch zwischen Selbsterklärung und Fremdwahrnehmung, ist nicht nur Thema, sondern geradezu Programm in Mayenburgs bereits 2022 in Reykjavik uraufgeführtem Stück, das Intendant Oliver Reese jetzt im Neuen Haus des BE zur deutschsprachigen Erstaufführung bringt.
Übergriffe auf dem Spielfeld
Machtmissbrauch, Grenzüberschreitung, Übergriffigkeit – das sind die großen Debatten-Themen, die hier in einer wohltuend um Komplexität und Genauigkeit bemühten Nahaufnahme verhandelt werden. Auf einem minimalistischen, von Janina Kuhlmann leicht in den Boden eingelassenen Spielfeld harren die ineinander verknäuelten Verhältnisse ihrer vermeintlichen Entwirrung, wobei sich hinter jedem gelösten Knoten freilich nur noch umso schwerer aufzudröselnde Verschlingungen auftun.
Astrid, die aufgeräumt-engagiert wirkende Pädagogin, die Bettina Hoppe mit einer punktgenauen Mischung aus Pragmatismus, Selbstkontrolle und panischem Situationskontrollbedürfnis ausstattet, lebt – was Wolfram bis dato nicht wusste – mit einer ehemaligen Schülerin zusammen. So stellt sich ihm der berufliche „Vorfall“, mit dem er auf fortgeschrittenem Promille-Pegel herausrückt, plötzlich – so sagt er zumindest – in einem anderen Licht dar: Der Vater einer Schülerin namens Ellen Babić behauptet, seine Tochter sei während einer Klassenfahrt von Astrid sexuell belästigt worden.
Allerdings sprudeln dabei – auch zwischen den berühmten Zeilen – derart haarsträubende Vorstellungen von Frauen im Allgemeinen und Beziehungen zwischen ihnen im Besonderen aus Wolfram heraus, dass man sich eigentlich wirklich nur auf Astrids Seite schlagen kann. Zumal er selbst irgendwie verklemmt auf Astrid steht. Die wiederum weiß ihrerseits allerdings dafür zu sorgen, hier nicht etwa als plakative Positivheldin vom Feld zu gehen.
Oliver Reese hat sich jedweden Regieeinfall, der vom Kern dieses Psychodramas im höheren Diskurskontext ablenken könnte, gespart und setzt ganz auf das spielende Trio. Das transportiert die minuziösen Verschiebungen im Machtgefüge, das plötzliche Aufleuchten eines strategischen Interesses hinter kollegialer Sympathie und den schwer greifbaren Übertritt vom Berufskontext in die Privatsphäre bis hin zum kleinen, mit unschuldigem Lächeln platzierten Verbaltritt gegen das Kollegen-Schienbein wirklich bestens über die Rampe. Die von Lilly Epply gespielte Klara fungiert, nomen est omen, dabei in ihrer unbedarften Gefühlsklarheit vor allem als Beschleunigerin des wechselseitigen Demaskierungsgeschehens zwischen den karrierebewussten Älteren.
Wer das Genre des psychorealistischen Kammerspiels mag und zudem Freude an den gar nicht so häufigen Theaterabenden hat, bei denen am Ende nicht alles so ist, wie es bereits in der ersten Minute schien, ist bei „Ellen Babić“ gut aufgehoben.
Nächste Vorstellungen am 16. und 17. März