England rätselt über Jadon Sancho

Fast 90 Millionen Euro soll Manchester United laut englischen Medienberichten zuletzt für Jadon Sancho angeboten haben. Womöglich zahlt der englische Rekordmeister am Ende sogar ein bisschen mehr, um das 21-jährige Talent von Borussia Dortmund wegzulotsen.

Damit wäre Sancho nicht nur einer der begabtesten, sondern auch der teuerste englische Spieler der Fußballgeschichte. Bei der EM wäre er aber lediglich der teuerste Zuschauer im viertelvollen Wembley-Stadion. Denn für England spielt Sancho gerade nicht.

In diesem allerorts leicht chaotischen Turnier sind Sanchos Leiden in London das größte Rätsel. Der Dortmunder, der den deutschen Vereinsfußball mit 16 Toren und 20 Assists in der vergangenen Saison wieder erleuchtete, spielt im Nationalteam nur eine Nebenrolle, und wartet vor dem dritten Gruppenspiel gegen Tschechien am Dienstag (21 Uhr, ARD) auf seinen ersten Einsatz. Im Auftaktspiel gegen Kroatien gehörte er nicht einmal zum Kader, gegen Schottland saß er 90 Minuten auf der Bank.

Dabei hätten ihn die Engländer gut gebrauchen können. Denn obwohl sie über viele Stürmertalente verfügen, haben sie im Angriff bisher enttäuscht. In den zwei Spielen ist ihnen lediglich ein Treffer und nur drei Schüsse aufs Tor gelungen. Dass Trainer Gareth Southgate trotzdem einen seiner gefährlichsten Offensivkräfte auf der Bank lässt, sorgt auf der Insel für Verwunderung.

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„Er ist einer unserer kreativsten Spieler und hat noch nicht gespielt,” sagte Rio Ferdinand der BBC. Der frühere Verteidiger ist nicht der einzige ehemalige Nationalspieler, der mehr Einsatzzeiten für Sancho fordert. Auch Ian Wright oder Wayne Rooney haben sich öffentlich gewundert, warum der Dortmunder nicht spielt.

Hierzulande wittern manche Kommentatoren disziplinarische Probleme – oder sogar Snobismus der Bundesliga gegenüber. Vor dem Turnier hätte Southgate schließlich gesagt, dass das Niveau im deutschen Fußball nicht so hoch sei wie in England. Andere fragen, ob der Trainer von den ständigen Gerüchten um Sanchos möglichen Wechsel zu United genervt sei.

Vielleicht liegt es aber eher daran, dass Southgate im Zweifel zu Konservatismus neigt. Schließlich hat er auch Aston Villas Jack Grealish auf der Bank gelassen. Als er am Wochenende dazu gefragt wurde, wies der Trainer auf mangelnde Erfahrung hin. „Wir haben einige explosive Optionen, und viele sind junge Spieler, die zum ersten Mal bei einem Turnier spielen“, sagte Southgate. „Jadon gehört zu dieser Gruppe. Er hat zuletzt gut trainiert, und wir müssen jetzt Entscheidungen treffen.“

Heftige Kritik nach Remis gegen Schottland

Bisher entschied sich der 50-Jährige immer für Erfahrung vor Explosivität. So hielt er in den ersten beiden Spielen zu Raheem Sterling, der eine eher schwache Saison bei Manchester City hinter sich hat. Auch Harry Kane, der für seine unauffälligen Auftritte in die Kritik geraten ist, hat einen Stammplatz. Wie Southgate am Sonnabend bestätigte, gibt es keine Überlegungen, dem schwächelnden Kapitän gegen Tschechien eine Atempause zu gönnen.

Irgendwas muss der Trainer aber unternehmen, um die steife englische Offensive wieder zu beleben. Nach dem torlosen Remis gegen Schottland, in dem England gegen einen deutlich schwächeren Rivalen erschreckend zahnlos wirkte, gab es heftige Kritik. Die Angst, dass die Three Lions wie so oft in der Vergangenheit den großen Hoffnungen nicht gerecht werden, wird größer. „Wir sollten einer der Favoriten sein, doch das war mir heute peinlich”, sagte Ian Wright in der BBC nach dem Schottland-Spiel.

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Dabei geht vielleicht ein bisschen verloren, dass die Mannschaft von Southgate immerhin schon vier Punkte auf dem Konto hat und mit einem Fuß im Achtelfinale stehen. Wie Sterling zuletzt betonte, schlägt man im Moment eigentlich nur in den Medien Alarm. „Ich glaube schon, dass es eine Überreaktion nach dem Schottland-Spiel gab. Es gibt mehr Panik außerhalb des Hauses als hier drinnen”, sagte er.

In den letzten Tagen soll Southgate seine Spieler auch daran erinnert haben, dass der Titelgewinner nicht immer derjenige ist, der am besten ins Turnier startet. Frühere Europameister wie Portugal 2016 oder Dänemark 1992 haben in der Gruppenphase eher enttäuscht. Und auch für England wäre es kein Desaster, wenn sie nur Gruppenzweiter werden würden. Denn so stünde man im Achtelfinale wohl Schweden oder der Slowakei gegenüber – und nicht etwa Frankreich oder Deutschland.

Insofern ist das Spiel gegen Tschechien auch keines, das man unbedingt gewinnen muss. Vielmehr geht es den Engländern darum, für ein bisschen mehr Optimismus zu sorgen. Und so könnte es tatsächlich kommen, dass Jadon Sancho oder Jack Grealish am Dienstag eine größere Rolle spielen.