Illegalität ist eine Fiktion
„Und Action, den Bus bitte vorfahren.“ Die Kamera blickt auf das lichtdurchflutete Foyer eines Krankenhauses, von rechts rollt ein Linienbus auf den Vorplatz. Die Stimmen sind aus dem Off zu hören. „Gibt es einen Unterschied zwischen der Rolle von Zohra und Rhim?“, fragt Regisseur Philip Scheffner. „Es gibt keinen“, sagt die Darstellerin Rhim Ibrir. „Sie spielt all das, aber für sie ist es wahr.“
Schon mit der Exposition ist die filmische Konstellation von „Europe“ gesetzt. Die Körper, die Orte, die Verhältnisse sind real. Die Figuren, die Dialoge, die Mise-en-scène sind Fiktion. Natürlich lässt sich das eben nicht so säuberlich trennen. Scheffner selbst, der für seine dokumentarisch-essayistischen Arbeiten bekannt ist, nennt es forced fiction, also eine durch die reale Situation seiner Darstellerin erzwungene Fiktion.
Um Fiktionsbescheinigungen geht es in „Europe“ auch in juristischer Hinsicht. Rhim Ibrir spielt Zohra, eine etwa 30-jährige Algerierin, der von einem Tag auf den anderen das vorläufige Aufenthaltsrecht abgesprochen wird. Sie kam nach Frankreich mit einer schweren, nicht behandelten Skoliose. Aufgrund der Krankheit durfte Zohra bleiben, soll das Land nun aber, nach positivem Therapieverlauf, wieder verlassen. Dabei ist die westfranzösische Kleinstadt Châtellerault ihr Zuhause geworden. Sie hat eine Arbeit gefunden, ihre Familie lebt hier, ihr Mann soll aus Algerien nachkommen.
Ein vielzitierter Satz von Martin Scorsese lautet, dass es im Kino darum gehe, was im Bild sei und was nicht. Philip Scheffner und seiner Autorin Merle Kröger sind die Implikationen dieses Satzes bewusst, und sie wissen, dass es bei den Produktionsverhältnissen anfängt. Die Beziehungen zwischen den Personen vor und hinter der Kamera sind ihren Filmen anzumerken, manchmal resultiert daraus eine fortgesetzte Zusammenarbeit, etwa im Fall von „Revision“ (2012) und „And-ek Ghes…“ (2016).
So wurde Colorado Velcu, Protagonist in beiden Arbeiten, im zweiten Film zum Ko-Autor und Ko-Regisseur, der die Migration seiner eigenen Familie nach Deutschland filmt. Auch „Europe“ steht in Verbindung mit der Recherche zu Scheffners „Havarie“ (2016), einem filmischen Experiment über die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer.
(In den Berliner Kinos fsk und Wolf)
Was im Bild ist und was nicht, bestimmt auch die Ästhetik von „Europe“. In statischen, zunächst freundlich hellen Einstellungen vermisst die Kamera von Volker Sattel die Schauplätze von Zohras Leben: Marktplatz, Imbissbude, Schwimmbad. Doch sobald ihr das Aufenthaltsrecht entzogen wird, verbannt der Film sie zunächst aus dem Bild. Der Bildkader wird verengt, Zohra bleibt im Off, auf die Fragen ihrer Mitmenschen kommt keine Antwort mehr.
Es ist ein Regieeinfall mit geisterhafter Wirkung, der die Ausgrenzung der Protagonistin aus ihrem sozialen Raum ganz auf die formale Ebene überträgt. Und in dieser Entscheidung, in der fortan veränderten Position der Kamera, liegt vielleicht auch die Position des Films: dass die vermeintliche Illegalität von Menschen eine Fiktion ist. Doch die Fiktion ist genauso ein Möglichkeitsraum, in dem der Film seine Protagonistin das Bild schließlich wieder betreten lassen wird: Am Ende verlässt Zohra den Film mit dem Bus vom Anfang. Europe, so heißt tatsächlich auch die Haltestelle, an der sie einsteigt. Einen symbolischeren Namen hätte man sich kaum ausdenken können.