Triell der Schmerzensmänner
Es kommt nicht nur darauf an, die Welt zu verdammen. Es kommt auch darauf an, wie man es tut. Karl Marx wollte die politisch-ökonomische Revolution, Richard Wagner die grundlegende kulturelle Wiedergeburt, Friedrich Nietzsche die Schaffung eines neuen Menschen.
Marx zielte auf die Befreiung der Ausgebeuteten, Wagner auf die Erlösung der Sinnberaubten. Nietzsche verwarf sowohl Wagners quasireligiöse Instrumentalisierung der Kunst wie auch das linke Gesellschaftsdenken, das für ihn nur eine Verlängerung der ressentimentgeladenen christlichen Ethik war, des „Sklavenaufstands in der Moral“.
Selten ist die Kluft zwischen der erfahrenen, oft von Mangel geprägten Welt und dem Zukunftshorizont, der Verbesserung oder Beglückung verhieß, jedenfalls so groß gewesen wie im 19. Jahrhundert. Dieses Gefälle förderte das Entstehen philosophischer und künstlerischer Groß-Werke, die den Umbruch der Verhältnisse inszenierten.
Dass die Religion ihre Deutungshoheit verlor, schuf eine weitere Voraussetzung für die großen weltanschaulichen Würfe. Am weitesten warfen – unter den deutschen Genies der zweiten Jahrhunderthälfte – Marx, Nietzsche und Wagner. Sie miteinander in Beziehung zu setzen und gewissermaßen ins Gespräch zu bringen, ist deshalb plausibler, als es manchen auf den ersten Blick erscheinen mag. Das neue Buch des Berliner Politologen und Theoriegeschichtlers Herfried Münkler bringt das Format des Triells auf eine unverhoffte intellektuelle Höhe.
[Herfried Münkler: Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch. Rowohlt Berlin 2021. 720 Seiten, 34 €.]
Geschickt hat Münkler seine Darstellung um „Knotenpunkte“ herum entwickelt. So vermeidet er das biografische Ausufern. Diese Knotenpunkte beziehen sich auf historische Ereignisse wie die Revolution von 1848/49 oder den deutsch-französischen Krieg und die Pariser Commune von 1871, aber auch auf Themen wie den Antisemitismus oder die unterschiedlich ausgeprägten Neigungen zum Schuldenmachen.
Dionysischer Überschwang eines Asketen
Nietzsche pries zwar den dionysischen Überschwang, lebte aber selbst wie ein Asket, so dass er gut mit wenig Geld auskam. Marx, auch wenn er die Bourgeoisie attackierte, bevorzugte privat einen halbwegs bürgerlichen Lebensstil, für dessen Aufrechterhaltung er auf die Zuwendungen seines Fabrikantenfreundes Engels angewiesen war. Wagner brauchte zur Entfesselung seiner Kreativität das Verwöhnaroma des Luxus. Ohne das üppige Mäzenatentum des Königs Ludwig II. wäre das nicht möglich gewesen.
Marx und Wagner, die beiden Revolutionäre von 1848, haben sich zwar weder beeinflusst noch persönlich gekannt; Marx hat sich nur gelegentlich abfällig über das „Bayreuther Narrenfest des Staatsmusikanten Wagner“ geäußert. Nietzsche und Marx haben sich gegenseitig wohl überhaupt nicht wahrgenommen. Biografische Parallelen aber sind auf Bekanntschaft nicht angewiesen. Schmerzensmänner waren alle drei. Nietzsche litt unter wochenlangen Kopfschmerzattacken, Wagner an einer brennenden Gesichtsrose, Marx unter dem Fluch eines faustgroßen Karbunkel.
Nietzsche machte Krankheit und Gesundheit zu Leitmetaphern seiner Philosophie. Bei Wagner spielte die Erlösung vom Leiden und vom Schmerz der „Amfortaswunde“ eine immer größere Rolle, bis zur eigenwilligen Umdeutung des christlichen Ostergeschehens im „Parsifal“. Marx dagegen überhöhte seine Qualen nicht, ihm waren „solche Sinninvestitionen in den eigenen Körper fremd“, wie eine von vielen pointierten Formulierungen Münklers lautet. Das mit der biologischen Existenz verbundene Elend war eine Störfrequenz für die Utopie der sozialen Befreiung.
Bei aller Suche nach Parallelen – das eigentlich Spannende in Münklers Darstellung sind die Unterschiede, weil sie zeigen, dass die gleichen Herausforderungen durch die Moderne ganz verschiedene Reaktionen möglich machen. Die Religion etwa war für Marx durch die Kritik Feuerbachs ein für allemal erledigt. Nietzsche spürte auf viel subtilere Weise den Folgen der transzendentalen Obdachlosigkeit durch den „Tod Gottes“ nach.
Fortwirkendes metaphysisches Bedürfnis
Erst recht Wagner ging von einem fortwirkenden metaphysischen Bedürfnis der Menschen aus, das nach dem Niedergang der etablierten Religion anderswo Befriedigung suchte, am besten in seinen eigenen Gesamtkunstwerken. In die Theorie von Marx wiederum schlich sich das Numinose als „Fetischcharakter der Ware“ ein.
Die wissenschaftlich-industrielle Moderne war für Nietzsche und Wagner eine Ära des Kulturverlusts; die Welt wurde bis ins Letzte durchdrungen von profaner Rationalität. Marx begrüßte diese Entzauberung, sie war für ihn der Treibriemen zur Revolution. Nietzsche und Wagner setzten dagegen auf die Wiederverzauberung. Ganz divers auch die Haltung zum Nationalstaat. Als der rigide Nationalismus gerade erst zur geschichtsbildenden Macht wurde, antizipierte der ungeduldige Marx bereits die Globalisierung des späten 20. Jahrhunderts. Antinational dachte auch Nietzsche. Er spottete über das Bismarck-Reich, das die Deutschen selbstherrlich werden ließ und deshalb für ihn den kulturellen Abstieg bedeutete. Wagner wiederum arrangierte sich mit der Macht, weil er sie als Erfüllungsgehilfin für sein Werk sah.
In den fabelhaften Kapiteln über Wagners „Ring des Nibelungen“ schält Münkler aus dem mythischen Bühnengeschehen eine hochkomplexe Gesellschaftsanalyse heraus – eine Welt der feindseligen Klassenkämpfe, Machtspiele und unseligen Handlungszwänge, die erstaunlich viel gemeinsam hat mit der Kapitalismustheorie von Marx, bei dem Münkler im Gegenzug ein „Wotansproblem“ entdeckt.
Die Götter des „Rings“ versteht er als „Bourgeois mit feudalaristokratischen Allüren“, die Riesen als „unter Proletarisierungsdrohung stehende selbständige Bauunternehmer“ – müssen sie doch die Götterburg Walhall errichten und werden dabei böse übers Ohr gehauen. Bei Wagner wird die Handlung von Machtwillen, Habgier, Neid und Kränkung angetrieben.
Von solchen Dispositionen des Individuums wollte Marx wenig wissen. Er setzte ganz auf die Analyse von Strukturen, die das Verhalten und die „Charaktermasken“ der Einzelnen funktionell bestimmten. Dass hier zwei grundverschiedene, aber gleichermaßen berechtigte Sichtweisen auf die Gesellschaft gegeneinander stehen, macht die Ausführungen ungemein erhellend. In solchem Perspektivismus besteht immer wieder der große Reiz dieses Buches.
Ideologisierung und Vereindeutigung
Alle drei wurden von ihren Nachlass-Verwaltern und Herausgebern später ideologisiert und vereindeutigt. Auch dagegen schreibt Münkler an. Er porträtiert Marx, Nietzsche und Wagner nicht als Verfechter geschlossener Lehren, sondern als Denker in Bewegung. Insbesondere Nietzsche hat immer wieder scharfe Selbstkritik an seinen eigenen Schriften geübt. Er wollte die Wandlungen seines Denkens in ein angemessen dramatisches Licht rücken und dadurch wohl auch die zunächst ausbleibenden Reaktionen auf seine Bücher kompensieren.
Auch Marx revidierte seine Positionen immer wieder. Münkler beschäftigt sich eingehend mit diesen Brüchen und Verschiebungen. So erfährt man, was Marx dazu brachte, seine „revolutionäre Naherwartung“ aufzugeben, und weshalb er später seine Hoffnungen nicht mehr auf Frankreich als Mutterland der Revolution, sondern auf Deutschland setzte. Die störrische französische Landbevölkerung war schuld! Marx hatte sie über allem Reden vom Proletariat glatt übersehen. Und nun hatten die Kleinbauern, die die Mehrheit des Volkes bildeten, mit ihren Stimmen 1851 Louis Bonaparte an die Macht gewählt, diese Marx so tief verhasste „Karikatur des alten Napoleon“.
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Allerdings verzichtete Marx auf den Gestus der Selbstkorrektur. Vielmehr belegte er Positionen, die er vor kurzem noch selbst vertreten hatte, mit den Namen anderer Mitstreiter und Denker, die weiter daran festhielten, und überzog sie dann mit ätzender Kritik. So habe er eine „breite Spur der Verfeindung hinter sich gelassen“.
Eine Kontinuität von Marx war im Übrigen die Abneigung gegenüber Russland, das er immer wieder als Akteur hinter reaktionären Machenschaften vermutete. Dass ausgerechnet Russland zum Feuerofen der sozialistischen Revolution werden sollte, ist für Münkler deshalb eine der größten Ironien der Weltgeschichte.
„Marx, Wagner, Nietzsche“ ist ein großes Werk, das eher kleine Thesen entwickelt. Davon aber die Fülle. Der Reichtum liegt im Detail, in der Vielzahl geistvoller Verknüpfungen. Es ist ein ideengeschichtliches Kaleidoskop und ein Theorie-Panorama des 19. Jahrhunderts, wie es nur als Ertrag eines langen Gelehrtenlebens möglich ist.