Der VfB Stuttgart hat seine Balance verloren
Vor 30 Jahren war die Welt noch eine andere. Es gab keine sozialen Medien, keine Smartphones, kein Internet, der Bundeskanzler hieß Helmut Kohl – und der Deutsche Meister VfB Stuttgart. Am 16. Mai 1992 köpfte Stuttgarts Kapitän Guido Buchwald zur vierten VfB-Meisterschaft ein und Stürmer Fritz Walter fragte unmittelbar nach dem Abpfiff frech: „Wo isch mei Kanon?“ Kurz drauf bekam er die Trophäe für den besten Torschützen überreicht. 15 Jahre später wiederholte der Traditionsklub diesen Erfolg. Seitdem geht es bergab.
Auch in dieser Saison kämpft der einst so stolze Verein gegen den Abstieg in der Fußball-Bundesliga. Sollte Hertha am Samstag in Dortmund verlieren und der VfB sein Heimspiel gegen den 1. FC Köln erfolgreich bestreiten, wäre der Ligaverbleib gesichert. Die wahrscheinlichere Konstellation dürfte aber der Gang in die Relegationsspiele sein.
Als Motivationshilfe und damit die Meilensteine des Klubs nicht vergessen werden, wird das Team von VfB-Trainer Pellegrino Matarazzo in Trikots auflaufen, die bis auf den Sponsor den Meistertrikots aus dem Jahr 1992 nachempfunden sind.
Die Frage wird sein, ob die Reminiszenz an die alten Heldentaten wirklich Auftrieb verleiht. Oder ob sie nicht bleischwer auf den Schultern der unerfahrenen Mannschaft liegt. Der 1992er-Kader des Klubs könnte von der aktuellen Mannschaft kaum weiter entfernt sein. Vor 30 Jahren stürmte ein Mix aus erfahrenen Haudegen (Eike Immel, Günther Schäfer), Weltklassespielern (Matthias Sammer, Guido Buchwald) und ausgekochten Schlitzohren (Fritz Walter, Maurizio Gaudino) zum Titel. Heute gibt es im VfB-Kader weder das eine noch das andere. Er ist lediglich ein Sammelsurium von fußballerischen Versprechungen.
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Gut möglich, dass aus Talenten wie Tiago Tomas, Omar Marmoush, dem kaum mehr berücksichtigten Mateo Klimowicz oder Tanguy Coulibaly irgendwann richtig gute Spieler werden. Das Problem ist nur: Im Moment sind sie es nicht. Vermutlich sind sie derzeit – und das dürfte eine Lehre aus dieser Spielzeit sein – nicht einmal gut genug für die Bundesliga.
Dabei ist es nicht lange her, da hatte das sehr anspruchsvolle Publikum in der Stuttgarter Arena wieder richtig Lust auf ihre Kicker bekommen. Die vergangene Spielzeit beendete der VfB als Aufsteiger auf Rang neun. Versprechungen wie Silas Katompa Mvumpa oder Sasa Kalajdzic zeigten – unterstützt von Routinier Gonzalo Castro und dem fulminanten Offensivspieler Nicolas Gonzalez – großartige Leistungen.
Doch Sportdirektor Sven Mislintat gab Stabilisator Castro keinen Vertrag mehr; der ehemalige Nationalspieler passte nicht in sein Konzept, in dem Talente, die irgendwann mal viel Ablöse einbringen sollen, die Hauptrolle spielen. Ebenjene große Ablöse war auch der Grund, warum Gonzalez heute nicht mehr für den VfB auf Torejagd geht.
Die Zukunft von Matarazzo und Mislintat ist offen
Die Mannschaft hat in dieser Saison ihre Balance verloren. Das könnte am Fehlen von Castro und Gonzalez liegen. Sicher aber auch am Verletzungspech. Katompa Mvumpa fehlte fast die gesamte Spielzeit, Kalajdzic auch die meiste Zeit.
Trotz der widrigen Umstände sind in den vergangenen Wochen vermehrt kritische Stimmen im Umfeld des Klubs aufgekommen. Sie entzünden sich an Sportdirektor Mislintat, dem Architekt des in dieser Saison so wackligen VfB-Kaders. Vereinfacht formuliert lautet der Vorwurf, dass ein bisschen mehr Castro und ein bisschen weniger Tiago Tomas dem abstiegsgefährdeten Klub gutgetan hätten.
Ein paar erfahrene Haudegen hätte sich so mancher VfB-Sympathisant und möglicherweise auch der neue Vorstandschef Alexander Wehrle gewünscht. Am Donnerstag jedenfalls ließ er die Zukunft von Matarazzo und Mislintat beim VfB Stuttgart über den Sommer hinaus offen. Man werde analysieren und dann zusammen „entscheiden, wie man in die neue Saison geht“.
Sätze wie diese mündeten in der Bundesligahistorie schon oft in eine personelle Neuaufstellung.