„Nicht das Allergefährlichste vor dem Herrn“
Es knallt, brennt und leuchtet. Und plötzlich stürmen Tausende Fans auf den Platz. Nach zwei Jahren in der Corona-Pandemie mit tristen Geisterspielen beschäftigt den Profifußball die Frage, ob die bildgewaltige Rückkehr der Anhänger nicht zu sehr zum Kontrollverlust führt. In Frankfurt feierten die Eintracht-Fans den Einzug ins Finale der Europa League emotional auf dem Rasen, zwei Tage später gab aus Köln und Gelsenkirchen ähnliche Bilder. Legitime Gefühlsausbrüche – oder gefährliche Zwischenfälle?
Sig Zelt, Sprecher der Organisation ProFans, versucht eine Einordnung. „Solche spontanen Ausbrüche hat es auch in der Vergangenheit schon gegeben. Man muss es nicht unbedingt gutheißen, aber man kann Verständnis dafür haben. Ich glaube nicht, dass das nun das Allergefährlichste vor dem Herrn ist“, sagte Zelt der Deutschen Presse-Agentur. Ähnlich hatte sich Eintracht-Trainer Oliver Glasner, der mitten im Trubel mit seiner Tochter spielte, vor einer Woche geäußert.
Beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) und der zuständigen Polizei wird das nicht so locker gesehen. Der DFB leitete nach den Ereignissen in Köln und Gelsenkirchen Ermittlungen ein. „Dieser Platzsturm hätte auch in einer Katastrophe enden können“, sagte der Leitende Polizeidirektor Peter Both, der das „schnelle und unmittelbare Eingreifen“ vieler Polizeibeamter auf Schalke lobte.
Für einen Anhänger in Gelsenkirchen, der am Samstagabend nach der vollbrachten Rückkehr in die Bundesliga live dabei war, wäre diese Katastrophe nach eigenen Aussagen fast eingetreten. „Es war pures Chaos! Ich wurde eingequetscht und bekam keine Luft mehr. Ich hatte große Angst, dass ich sterbe!“, sagte Ralf Höfs der „Bild-Zeitung“ (Donnerstag). Mehr als 2000 Fans hatten sich auf das Spielfeld gedrängt, dabei kam es schon auf den Tribünen zu Stürzen und Verletzungen. Einige Betroffene wurden ins Krankenhaus gebracht.
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Der FC Schalke teilte am Donnerstag auf Anfrage mit, er stehe „mit dem betroffenen Fan in Kontakt und hat ihm jegliche Unterstützung angeboten, die er zur Verarbeitung seiner Erlebnisse benötigt“. Zudem sei „die Prüfung seiner Hinweise bereits angelaufen“.
Im Grundsatz muss sich für die Fans dieses Frühjahr anfühlen wie eine große Befreiung nach zwei langen Corona-Jahren. Seit ein paar Wochen gelten praktisch keine pandemiebedingten Beschränkungen mehr, dazu feiern Klubs mit starker Fanbasis aufsehenerregende Erfolge: Frankfurt siegte im Camp Nou beim FC Barcelona mit 30 000 Gästefans, Schalke stieg auf, die Glasgow Rangers und der FC Liverpool zogen in internationale Endspiele ein.
Jedes Wochenende gibt es dazu neue farbenfrohe Bilder von aufwendigen Choreographien – und eben auch von Pyroshows, die eigentlich verboten sind, von einigen Vereinen trotz Geldstrafen aber nur halbherzig verfolgt werden. In vielen Fankreisen unbeliebte Klubs wie Paris Saint-Germain, Manchester City oder RB Leipzig verpassen die großen internationalen Endspiele im Mai, stattdessen werden bei den Finals in Paris (28. Mai), Sevilla (18. Mai) und Tirana (25. Mai) Fanfeste von Traditionsklubs erwartet. Für Fußball-Romantiker ist es ein märchenhafter Frühling.
Ein Frühling für Fußballromantiker
Die lange Stadionpause hatte für viele nicht nur positive Effekte, wie Bochums Trainer Thomas Reis beobachtet hat. „Mein Eindruck war, dass die Stimmung am Anfang irgendwie anders, mitunter sehr aggressiv war. Man hat gemerkt, dass den Leuten was gefehlt hat. Ich weiß nicht, ob man es mit der Pandemie allein begründen kann – ob es bei uns der Becherwurf war, anderswo sind wir auch beworfen worden oder es wurden auch mal die gegnerischen Trainerbänke beleidigt“, sagte Reis der Deutschen Presse-Agentur. Inzwischen seien die Menschen einfach nur „froh“, ihre Klubs wieder unterstützen zu können.
Das von vielen befürchtete Szenario, dass sich zahlreiche Fans nach der Corona-Zeit vom Fußball abwenden könnten, ist bis jetzt nicht eingetreten. Einige Stadien waren direkt wieder ausverkauft, die Stimmung vielerorts mit den Jahren bis 2019 vergleichbar.
Für Helen Breit, die Vorsitzende der Fan-Organisation „Unsere Kurve“, kommt das nicht überraschend. Jeder Mensch sei die Pandemie ein bisschen leid, sagte sie jüngst. „Da bietet der Fußball, so wie zum Beispiel auch der kulturelle Bereich, die Möglichkeit, wieder eine Normalität wie früher zu erleben. Diese Euphorie überwiegt einfach im Moment.“ Fährt der eigene Klub dann einen emotionalen Erfolg ein, ist jene Euphorie kaum mehr einzufangen – wie in Frankfurt, Köln und Gelsenkirchen zuletzt sehr gut zu beobachten war. (dpa)