Therapiestunde mit Kendrick Lamar
Dornenkrone auf dem Kopf, Kind auf dem Arm, Revolver im Hosenbund. Ein starkes, ikonische Bild – und doch eines, das nicht ganz stimmt, eines, das auf die falsche Fährte lockt. Passender wäre es gewesen Kendrick Lamar hätte sich auf dem Cover seines lang erwarteten fünften Studioalbums auf der Couch eines Psychotherapeuten gezeigt.
Denn „Mr. Morale & The Big Steppers“ (Universal) erzählt nicht die Geschichte eines Hood- Heilands, der seine Familie beschützt (im Bildhintergrund ist eine Frau mit Baby zu sehen), sondern vom Ringen eines 34-jährigen Superstars mit seinen Zweifeln, seiner Vergangenheit, seiner Gesellschaft.
Er rappt über seine „daddy issues“
Das ist ganz schön viel. Weshalb Lamar das Werk wohl in zwei Teile mit jeweils neun Songs aufgeteilt und sich therapeutische Hilfe gesucht hat. „I went and got me a therapist“ rappt er beiläufig im Eröffnungssong „United In Grief“ und verkündet, dass er in den letzten 1855 Tagen einiges durchgemacht hat – es ist etwa die Zeit, die seit Fertigstellung seines Erfolgsalbums „Damn.“ vergangen ist.
Er beschreibt die Welt als Sackgasse, in der Dämonen als Religion dargestellt werden: „The world that I’m in is a cul-de-sac / The world that we in is just menacing / The demons portrayed as religion is“.
Lamar ist ein tief religiöser Mann, der seinen Glauben immer wieder in seinen Songs thematisiert hat. Doch diesmal scheint göttlicher Beistand nicht zu mehr zu reichen, und so lauten die nächsten Zeilen „I wake in the morning, another appointment / I hope the psychologist listenin’“, bevor Lamar über einem schnellen Schlagzeug-Beat mit einem atemlosen Rückblick auf frühere Bling-Bling-Zeiten und Begegnungen beginnt. Es wirkt wie ein Abschied: Einmal noch die Autos, den Schmuck, die Mädchen erwähnen – und schon folgt im nächsten Song die Aufforderung, sich von all dem zu lösen.
Schließlich soll es hier um die inneren Werte gehen – und so beginnt Kendrick Lamar seine Therapie da, wo alle Therapien beginnen: in der Kindheit. Der in einen warmen Old-School-Sound gekleidete Song „Father Time“ ist eine präzise Analyse der „daddy issues“ des in Compton aufgewachsenen Rappers.
Die für ihre Bandenkriege bekannte Gegend gehört zu den mystischen Orten des Westcoast-Hip-Hops, in dessen Tradition sich Kendrick Lamar sich erstmals 2012 mit seinem Instant-Classic-Album „good kid, m.A.A.d. city“ eingeschrieben hat. Allerdings hat sich die Härte dieser Gegend von L. A. auch in ihn eingeschrieben. Sein Vater brachte ihm bei, nie zu weinen, stets auf der Hut zu sein, niemandem außer seiner Mutter zu trauen.
Doch Lamar bringt in „Father Time“ auch Dankbarkeit für seinen Vater zum Ausdruck, denn er ist froh, dass dieser überhaupt da war – keine Selbstverständlichkeit wie ein Blick auf seine Freunde zeigt: „My niggas ain’t got no daddy, grow up overcompensatin’ / Learn shit ’bout bein’ a man and disguise it as bein’ gangsta / I love my father for tellin’ me to take off the gloves“. Kendrick Lamar hat diese Gangster-Rolle nie übernommen. Im Refrain, den der britische Musiker Sampha mit seiner umwerfend sanften Stimme singt, wird die väterliche „tough love“ besungen und zugleich betrauert. Denn Kendrick Lamars Ziel ist vor allem, toxische Kreisläufe zu durchbrechen.
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Gerade wenn es um Frauen geht, scheint er damit allerdings noch nicht sonderlich weit gekommen zu sein, was seine ungebrochene Vorliebe für die Verwendung des Wortes „bitch“ verdeutlich. Selbst wenn es die authentische Spiegelung eines misogynen Kontextes ist, schmerzt es, das immer wieder hören zu müssen.
Aber Schmerz ist natürlich Teil der Therapie – und so führen Lamar und Taylour Paige im Track „We Cry Together“ den Streit eines Paares auf, der derart vor gebrüllten Beleidigungen und Verfluchungen strotzt, dass sich beim Hören das Herz zusammenzieht – bühnenreife Performance. Schade nur, dass die Frau am Ende um Sex bittet, was der Mann ablehnt, womit er nicht nur das letzte Wort hat, sondern auch die Oberhand behält.
Zum Therapiekonzept gehört, dass Kendrick Lamar, der „Damn.“ fast ohne Gäste bestritt, diesmal viel Gesellschaft hat. Neben Sampha sind unter anderem Ghostface Killa, Baby Keem, Kodak Black und Beth Gibbons dabei. Auch die Stimme seiner Partnerin Whitney Alford ist einige Male zu hören. Sie ist es, die ihm in „Father Time“ rät, eine Therapie zu machen und sich mit einem gewissen Eckhart in Verbindung zu setzten.
Damit ist Eckhart Tolle gemeint, Autor von spirituellen Büchern wie „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“, der einige Male zu hören ist auf dem Album. Dessen Sound ist relativ disparat, reicht von hartem Trap bis hin zu souligen Momenten, was jedoch über 73 Minuten einen stimmigen Fluss ergibt.
„Mr. Morale & The Big Steppers“ stellt einen Höhepunkt des bisherigen Popjahres dar – und Zeitgenossen wie Kanye West und Drake weit in den Schatten. Von keinem der beiden könnte man sich einen Track wie „Auntie Diary“ vorstellen, der von zwei trans Menschen erzählt. Obwohl Lamar die Begriffe, Pronomen und Geschlechter im Text nicht richtig auf die Reihe bringt, artikuliert er doch eine wertvolle solidarische Perspektive. „The day I chose humanity over religion“ ist eine Zeile, die bei seinen Fans widerhallen wird. Genauso wie der Schluss des Stücks, in dem er eine einleuchtende Analogie zwischen dem Gebrauch des N-Wortes und des homofeindlichen „faggot“ zieht.
Das beeindruckteste Lied ist jedoch das vorletzte – und mit knapp sieben Minten längste: „Mother/Sober“ handelt – zunächst nur durch wenige Klavierakkore und ein Pochen begleitet – von Missbrauch und Missbrauchsverdacht in seiner Familie sowie von seiner eigenen Untreue. Dann fällt Kendrick Lamar in einen wütenden Tonfall, erkennt die strukturelle Gewalt, der afroamerikanische Familien ausgesetzt waren und endet in einer Erlösungsfantasie, die wie ein Gebet klingt. Heilung und Transformation – mögen sie ihm gelingen.