Der Wotan-Clan

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich – eben nicht. Wenn Regisseur Valentin Schwarz den neuen wegen Corona zweimal verschobenen  „Ring des Nibelungen“ in Bayreuth als Familiensaga anlegt, werden gleich am Vorabend des „Rheingold“ Waffen gezückt. Und noch bevor aus den Tiefen des Orchestergrabens im Festspielhaus das suptratiefe Es der Kontrabässe ertönt, dieser Urschlund all der „Ring“-Motive und all der göttlichen Lichtalben und zwergenhaften Schwarzalben in Wagners Weltuntergangs-Mythos, geht der Vorhang bereits auf und man erblickt – ja was? Eine DNA-Doppelhelix? Korallen am Rheingrund, gleich neben dem alsbald verfluchten Ring?

Nein, eine Nabelschnur ist auf dem bühnenhohen Video zu sehen, oder genauer: zwei. Zwillinge im Mutterleib tauchen auf, während allmählich die von Cornelius Meister am Pult allzu nüchtern  konturierten Wagnerschen Wellenklänge anheben. Erst gleiten sie sanft umeinander, dann wird getreten und geboxt. Bruderkrieg, Brudermord,stimmt, das fängt schon im „Rheingold“ an, wenn Alberich seinen Bruder Mime knechtet und der Rieser Fafner seinen Bruder Fasolt erschlägt.

Der Clou des nach zwei Corona-Jahren so heftig herbeigesehnten neuen Bayreuther „Rings“ besteht darin, dass der 33-jährige Österreicher Schwarz Wagners freien Umgang mit nordischen und mittelalterlichen Mythen seinerseits als Freibrief dafür nimmt, etwas Neues zu schaffen. Nicht der Ring, nicht das schnöde Götterkapital wird von Alberich geraubt, als die Rheintöchter ihn neckisch entmachten, sondern die Jugend, die Zukunft.

Hilfe, der Zwerg hat die Kinder entführt: Bei dem Jungen mit Basecap kann es sich nur um Klein-Siegfried handeln, bei den blondbezopften Mädchen womöglich um die späteren Walküren. Oder wie auch immer, vielleicht handelt es sich bei dem Jungen auch um den bad guy Hagen, der später Siegfried töten wird. In jedem Fall stellt Schwarz die Generationenfrage. Er wird bis zur “Götterdämmerung” gewiss herausarbeiten, wie die Familientraumata von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Und Siegfried als Kind im Kinderheim Nibelheim, das hätte insofern seine Logik hat, als der strahlende Hoffnungsträger des Wagnerschen Mammutwerks in Teil 3 der Tetralogie ja tatsächlich von Alberichs Bruder Mime großgezogen und im Schmieden unterrichtet wird. Mit der gerade im „Rheingold“ so sinnfällig lautmalerischen Musik hat die Familienaufstellung samt Kinderhandel-Thema über weite Teile allerdings weniger zu tun.

Den Wotan-Clan mit Kinderplanschpool statt Rhein und im zweiten Aufzug mit Bungalow-Wohnlandschaft samt Salon mit Dienstpersonal und Haus-Bar zu zeigen (Bühne: Andrea Cozzi), verharmlost den Auftakt zum weltumspannenden, inkommensurablen 16-Stunden-Werk außerdem eher, als ihn ins Heutige hinein zu radikalisieren.

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Der Göttervater tritt im Golfdress auf, statt des Hammers schwingt Donner einen Golfschläger (was mit sofortigem Hexenschuss bestraft wird – Lacher im Publikum). Freia wird im SUV entführt, Fricka schlürft ein Tässchen Espresso, bis Urmutter Erda ihr berühmtes Machtwort spricht. Sie ist, das leuchtet ein, ohnehin von Anfang an dabei in der Upperclass-Welt.

Cornelius Meister und das Festspielorchester legen derweil unten im Graben das Actionpotential der Wagnerschen Partitur frei. Man vermisst das Fantastische, Verstörende, den Wagnerschen Mischklang. Noch die züngelnden Flammen in Nibelheim nehmen sich plakativ aus.

Am überzeugendsten unter den “Rheingold”-Sängern: Olafur Sigurdarson als Alberich

Unter den Sängern erntet Olafur Sigurdarson als Alberich den heftigsten Applaus. Seine Stimmgewalt, seine Ausdrucksintensität und sein die eigene Fehlbarkeit nie leugnender Furor überzeugen in der Tat am meisten, gefolgt von Christa Mayers so energischer wie emotional nuancierter Göttergattin Fricka und der natürlichen Autorität von Okka von der Dameraus Erda. Die anderen, auch dynamisch schwächeren Stimmen, Egils Silins als etwas statuarischer Wotan, Daniel Kirch als gelegentlich lackaffig-kapriziöser Loge, Arnold Bezuyen als jammernder, japsender Mime  oder Jens-Erik Aasbø und Wilhelm Schwinghammer als Riesen-Paar verkörpern eher eindimensionale Typen, wenn auch mit Lust an der Karikatur.   

Wie das wohl wird, wenn die Kinder groß sind? Die entführten, verpfändeten, um ihre Kindheit betrogenen Kinder? Valentin Schwarz’ Wagner- und Bayreuth-Regiedebüt firmiert seit einem Interview im letzten Winter unter dem Etikett „Netflix“-Ring. Na ja, „Dallas“ ist älter als Netflix.

Klein-Siegfried ist übrigens schon im  „Rheingold“ kein Engel, und ständig wird wie gesagt von Göttern, Riesen und Zwergen mit Pistolen herumgefuchtelt. Wann fällt der erste Schuss? Am Montag geht’s weiter bei den diesjährigen Festspielen mit dem neuen Bayreuther „Ring“. In der „Walküre“, so viel ist sich, kommt weitere Verwandtschaft ins Spiel.