Rassismus und Verbrechen in der Motorcity

Alles sei normal, ganz genauso wie an jedem anderen Montag. Sagt der Mann, der an diesem Morgen plötzlich in der Küche der Familie Wertz steht. Nicht normal ist allerdings, dass er eine Maske trägt und eine Pistole in der Hand hält, genau wie seine beiden Begleiter. Ein Überfall, eine Geiselnahme. Und angeblich ein einfacher Job, bei dem nichts schiefgehen kann. So hat es der Auftraggeber den drei Gangstern versichert.

Sie müssten nur ein paar Stunden die Ehefrau und zwei Kinder „babysitten“, während einer von ihnen den Familienvater zum Büro begleitet, um ein Dokument aus dem Safe zu stehlen. Natürlich geht dann alles schief – und wer am Ende doch mit heiler Haut aus der Nummer rauskommt, hat bloß Glück gehabt.

Steven Soderberghs Gangsterfilm „No Sudden Move“, der im Detroit des Jahres 1954 spielt, nimmt schnell Fahrt auf, angetrieben vom Souljazz, Rhythm’n’Blues und Surfrock des Soundtracks. Die Kleinkriminellen Curt (Don Cheadle), Ronald (Benicio del Toro) und Charley (Kieran Culkin) hoffen auf das schnelle Geld, ahnen aber nicht, worauf sie sich eingelassen haben.

Die Autoindustrie beherrscht das Detroit der Nachkriegsjahre

Bevor sie von einem Mittelsmann für eine Aufgabe angeheuert wurden, die in drei Stunden erledigt sein sollte, waren sie einander nie begegnet. 2000 Dollar Anzahlung, anschließend noch einmal 2000 Dollar Prämie – das war der Deal. Doch in Wirklichkeit geht es um viel größere Summen, das wird bald klar.
Das Detroit der Nachkriegsjahre. Die boomende Motor City wird von den „Big Three“ der Autoindustrie beherrscht, General Motors, Ford und Chrysler.

Und natürlich von der organisierten Kriminalität, wobei die Übergänge zwischen beiden ökonomischen Welten eher fließend sind. Bislang hat die vom stiernackigen Patriarchen Frank Capelli (Ray Liotta) angeführte Mafia in halbwegs friedlicher Koexistenz mit der afroamerikanischen Gang des supercoolen, stets piekfein im dreiteiligen Anzug, mit Stock und Sonnenbrille auftretenden Hipsters Aldrick Watkins (Bill Duke) gelebt.

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Nun aber werden die Karten neu gemischt, weil aus Chicago ein weiterer Boss in die Stadt drängt. Um Fuß zu fassen, versucht er ein Codebuch in die Hände zu bekommen, in dem die Namen und Aktivitäten der Konkurrenz chiffriert eingetragen sind.

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Heile Welt ohne Moral

Wie sehr diese Stadt, dieses Land, diese Gesellschaft durchtränkt ist vom Gift des Rassismus, das zeigt Soderbergh immer wieder en passant. In der großartigen Anfangssequenz läuft Curt durch nächtliche Straßen, vorbei an leerstehenden Häusern. Ganze afroamerikanische Stadtquartiere, heißt es im Nebensatz eines Dialogs, sollen abgerissen werden, um die Bewohner zu vertreiben.

Curt ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden und möchte in Kansas City ein besseres Leben beginnen. Auch Ronald plant einen Neuanfang, zusammen mit seiner Geliebten, die gefährlicherweise mit Capelli verheiratet ist. Als Ronald im Auto neben Curt Platz nehmen muss, tut er das höchst widerwillig, weil er etwas dagegen hat, neben einem Schwarzen zu sitzen. Beste Freunde werden sie nicht, aber sie raufen sich zusammen, als sie merken, dass sie reingelegt wurden.

Soderbergh, der bei „No Sudden Move“ wie schon so oft auch die Kamera geführt hat, schwelgt in den Details der erlesenen Retro-Ausstattung. Die Hotelzimmer, in denen die Gangster leben, und die Hinterzimmer, in denen sie sich treffen, sehen auf kunstvolle Art noch trostloser und schäbiger aus als in den klassischen Film Noirs von Joseph H. Lewis oder Fritz Lang, die sein ästhetisches Vorbild sind.

Das Vorstadt-Häuschen der Wertz-Familie wirkt mit seinen geblümten Tapeten und der blitzsauber geputzten Küche wie aus einem Heile-Welt-Werbeprospekt. Doch Hausfrau Mary (Amy Seimetz) erträgt ihr Leben nur noch ketterauchend, und ihr Gatte Matt (David Harbour) ist nicht der moralisch einwandfreie Angestellte, der zu sein vorgibt.

Film Noir und schwarzer Screwball-Humor

Mit seiner „Ocean’s“-Trilogie, der Elmore-Leonard-Verfilmung „Out of Sight“ und zuletzt dem Heist-Movie „Lucky Logan“ hat Soderbergh bewiesen, dass ihm Stoffe liegen, in denen kleine Ganoven vom großen Coup träumen. Auch in „No Sudden Move“, entstanden nach einem Drehbuch des „Men in Black“-Autors Ed Solomon, funktioniert die Mischung aus Noir und tiefschwarzem Screwball-Humor lange Zeit prächtig.

Der Dialog, den die Gangster mit dem pubertierenden Sohn der Wertz-Familie über den Unterschied zwischen „Sugar Smacks“- und „Trix“-Cornflakes führen, ist natürlich ein Zitat des berühmten „Cheese Burger“-Gesprächs aus Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“. Der Plot schlägt einige Haken zu viel und hängt in der Mitte etwas durch, doch das starke Ensemble tröstet über einige dramaturgische Schwächen hinweg.

Don Cheadle als Stehaufmännchen Curt und Benicio del Toro als dessen ständig alkoholisierter Sidekick Ronald tragen den Film. Der geheimnisvolle MacGuffin wird ironischerweise nur „Dokument“ genannt; alle wollen es haben, keiner bekommt es. Lange Zeit jedenfalls. Es handelt sich am Ende aber nicht um das Codebook, sondern um die Konstruktionszeichnung eines neuen Abgasfilters. Die Autoindustrie geht über Leichen, um zu verhindern, dass er auf den Markt kommt. (Ab Donnerstag in den Kinos)