Kultur wirkt bei ihm immer politisch
Früher einmal sammelte er nordamerikanische Pfeilspitzen. Das passt zu dem Mann, der Austauschschüler in Missouri war und 1995 als Verleger für Holtzbrinck nach New York ging. Die literarischen Größen, die er betreut hat, reichen aus für mindestens ein verlegerisches Lebenswerk. Zu ihnen zählen Toni Morrison, Imre Kertész, Elfriede Jelinek, Salman Rushdie, Paul Auster, Siri Hustvedt und Thomas Pynchon. Da fällt Understatement schwer.
Michael Naumann feiert an diesem Mittwoch seinen 80. Geburtstag. Und es stellt sich auch gleich die Frage, ob man ihn überhaupt beruflich festlegen kann, und wozu? Naumann war Ressortleiter beim „Spiegel“, Chefredakteur und Herausgeber der „Zeit“, später auch mal Chefredakteur von „Cicero“: Journalismus ist eine seiner Leidenschaften.
„Glück gehabt“, so heißt seine Autobiografie. An der von ihm mitbegründeten Barenboim-Said-Akademie in Berlin fungiert Naumann als Rektor. Kultur wirkt bei ihm immer politisch, als Verbindendes. Genüsslich zitierte er im Tagesspiegel-Gespräch die „Los Angeles Times“ mit dem Satz: „Die Elbphilharmonie ist der Konzertsaal, den Hamburg braucht. Der Pierre Boulez Saal ist, was die Welt braucht.“ Diesen wunderbaren Kammermusikraum hat Frank Gehry entworfen. Dort erklingt die Musik nicht nur, dort lebt sie auch.
Spitzname „Open Mike“
Promoviert hat er über Karl Kraus, und schon kommen die Pfeilspitzen wieder ins Spiel. Michael Naumann scheut die öffentliche Auseinandersetzung nicht. Er besitzt die Gabe der scharfen, auch unterhaltsamen Rede. Freunde oder vielleicht auch Gegner haben ihm einmal den Spitznamen „Open Mike“ angehängt.
In der hitzigen Auseinandersetzung um das Schloss in Berlin vor über zwanzig Jahren sprach er sich für die Rekonstruktion aus. Überraschend damals auch seine Ablehnung des von Peter Eisenman entworfenen Mahnmals für die ermordeten Juden Europas: Damit wurde erreicht, dass der Ort um ein Museum erweitert wurde.
Er wechselte Jobs und Engagements wie Fußballprofis den Club: ein Angriffsspieler. Der Sozialdemokrat Naumann war 2008 Spitzenkandidat bei der Hamburger Bürgerschaftswahl, verlor aber trotz ansehnlicher Stimmengewinne für die SPD gegen Ole von Beusts CDU. Naumann mag das Risiko. Sonst wäre er 1998 nicht dem Ruf Gerhard Schröders ins Kanzleramt gefolgt. Es war nach der Kohlschen Ewigkeit eine Aufbruchsstimmung wie jetzt nach 16 Merkeljahren.
Wieder eine Pfeilspitze, ein Treffer: Schröder und Naumann erfanden das Amt des Kulturstaatsministers, des „Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien“. Gut besonders für die Hauptstadt, gut für das Land. Die kulturpolitischen Grenzen des Föderalismus und die neu gefasste Bundesverantwortung für die Kultur, das brachte anfangs reichlich Konfliktstoff.
Selbstverständlichkeit des kleinen Dienstwegs
Naumann versah das neue Amt, damals noch in einem Provisorium, einem alten DDR-Gebäude angesiedelt, mit der Vehemenz und dem Tempo, die ihn charakterisieren. Es wurden nur zwei Jahre, aber prägende. Daniel Barenboim kam an die Staatsoper nach Berlin, und die von der SPD geführte Bundesregierung brachte das Geld auf, um der Kunstsammlung von Heinz Berggruen ein hauptstädtisches Domizil zu sichern.
Dieter Kosslick wurde als Berlinale- Chef berufen und Joachim Sartorius Intendant der Berliner Festspiele, die dann auch ihr eigenes Haus bekamen. Der Bund und die Kultur: Schnell hatte man das Gefühl, dass es dieses Amt schon immer hätte geben müssen. Naumann stellte eine Selbstverständlichkeit des kleinen Dienstwegs her, vom Kanzler zum Staatsminister unter einem Dach und innerhalb einer Partei.
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So blieb es. Julian Nida-Rümelin und Christina Weiss folgten für die SPD. Angela Merkel holte den Bremer CDU-Granden Bernd Neumann ins Kulturamt. Dessen Nachfolgerin Monika Grütters betonte stets ihren guten Kontakt zur Kanzlerin, der Parteifreundin.
Nun ist es zum ersten Mal anders. Der designierte SPD-Kanzler Olaf Scholz bekommt mit Claudia Roth eine Grüne als Staatsministerin für Kultur und Medien. Es war eine massive Überraschung, als plötzlich der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda, ein langjähriger Scholz- Vertrauter, aus dem Rennen flog. Brosda galt als sicherer Kandidat, aber offenbar war das am Ende zu viel hanseatisch-sozialdemokratische Männerwirtschaft. Für den Geschmack vieler Beobachter gab Scholz die Kultur zu einfach ab, Verhandlungsmasse eben, wie andere Ministerien und Ämter.
Kann Claudia Roth das Erbe antreten?
Zum zehnjährigen Jubiläum des Amts sagte Michael Naumann 2008 in dieser Zeitung: „Ich werde nie vergessen, wie ich an einem Mittwoch in der Kabinettssitzung einen Zettel von Gerhard Schröder zugesteckt bekam: Michael, du bekommst die Millionen für die Sammlung Berggruen. Ein Kulturstaatsminister von der einen und eine Kanzlerin von der anderen Partei, das ginge gar nicht. Da stünde auf dem Zettel: Und wer waren Sie noch gleich …“. 253 Millionen DM waren es.
Naumann vermischte da seine eigenen sehr guten Erfahrungen mit der Sache an sich. Wer würde das im Falle des Erfolgs nicht tun? Und natürlich wird von der für Kultur im Kanzleramt zuständige Persönlichkeit erwartet, dass sie oder er sich in der Öffentlichkeit, in der Fraktion und im Kabinett deutlich behauptet. Auch Monika Grütters, der jetzt der Abschied nach acht Jahren schwer fällt, wusste zu überreden, wenn nicht zu überrollen.
Keine schlechte Voraussetzung für das Amt, das gern an der Menge des Geldes gemessen wird. Grütters konnte den Etat beständig steigern, zuletzt auf 2,14 Milliarden Euro. Dazu kommen zwei Milliarden für das Pandemie-Hilfsprogramm „Neustart Kultur“ und ein Sonderfonds mit 2,5 Milliarden für Einnahmeausfälle. Damit steht die Bundesrepublik im internationalen Maßstab sehr gut da.
Claudia Roth, als durchsetzungsfähig bekannt, wird ebenso kämpfen und überzeugen können. Die 66-Jährige ist eine erfahrene Politikerin mit bunter Biografie, eine Marke. Es ist nicht gesagt, dass die rot-grüne Kultur-Kohabitation im Kanzleramt Schlechtes bringt. Roths Berufung zeigt eben auch, wie Scholz das Publikum mit Personalentscheidungen wach hält. Eine jede verantwortliche Kulturperson im Kanzlerdunstkreis hat die Aufgabe und Chance, das Amt stets aufs Neue zu erfinden. Es ist kein eigenständiges Ministerium. Das lässt sich mit kräftigem Auftritt und Konfliktlust kompensieren. Michael Naumann zieht sich zum Geburtstag nach Bayern zurück, an einen schönen Ort des Geistes und der Einkehr, wie man hört. Im nächsten Jahr will er bei der Barenboim-Said-Akademie aufhören.