Bundeskanzler Lazarus
Mitglied einer Kirche ist der ab heute regierende Bundeskanzler nicht. Aber der so rationale Hanseat Olaf Scholz hat sich zuletzt zum Glauben bekannt. Er glaube an den Fortschritt und an den Erfolg seiner Ampelkoalition. Eigentlich müsste er auch an die Auferstehung von den Toten glauben. Denn für mausetot haben alle (außer ihm) vor einem Jahr noch die SPD gehalten. Und mit ihm den Kanzlerkandidaten einer Partei, deren Umfragewert sich beim Politbarometer im November 2020 gerade um einen Punkt gesteigert hatte. Auf 16 Prozent. Zum Vergleich lag die Union da bei 37 Prozent, und die Grünen hatten 20, die FDP gerade fünf in der demoskopischen Wählergunst.
Schon damals erklärte Olaf Scholz völlig unbeirrt, er wolle „Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden“. Das klang leicht redundant und: schwer aberwitzig. Zwar galt Scholz hinter Angela Merkel immer als einer der, wenn nicht direkt populärsten, so doch angesehensten Politiker. Vor einem Jahr mit dem Zustimmungswert 1,8 knapp hinter dem vermeintlich so erfolgreichen Pandemiebekämpfer Jens Spahn (1,9) und knapp vor Markus Söder (1,7). Armin Laschet hatte 0,9 und Friedrich Merz minus 0,1. Aber mit 16 SPD-Prozenten gegen 37 Unionsprozente Kanzler werden? Mit einer Partei, die ihn statt zum Vorsitzenden zum offenbar aussichtslosen K-Kandidaten hochdemontiert hatte.
Dieser 8. Dezember 2021 markiert darum ein wahres Wunder. Nicht nur bei Raymond Chandler schlafen Tote halbwegs fest, doch manche Leichen leben länger als gedacht. Durchs Reich der Literatur und des Films geistern Scheintote und Zombies. Trotzdem ist das Wunder der Auferstehung noch vor dem Jüngsten Gericht das größte. Der biblische Lazarus hat es laut Johannes-Evangelium mit Christi Hilfe erfahren. Maler wie Michelangelo, Caravaggio und Rembrandt haben es gemalt, Regisseure wie Christopher Nolan sind durch den Glaubens-Mythos zu filmischen Variationen angeregt worden. Und die SPD hat samt Scholz einen Lazarus-Effekt erfahren.
„They never come back“, lautete das Verdikt einst für einmal geschlagene Boxchampions. Das hat Muhammad Ali dann widerlegt. Aber dessen „I am the greatest“ passt ja nicht so recht auf die Esken-SPD und auch nicht für Scholz. Dessen geheimer Kampa-Manager könnte eher Herbert Achternbusch gewesen sein: „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ Im Übrigen wirkt Scholz wie ein Merkel-Cousin. Die alte Kanzlerin, tatsächlich nicht in der DDR, sondern in Hamburg geboren, war eine Pfarrerstochter; der neue Kanzler ist, selbst ohne Kirche, ein Wundergläubiger. Das wenigstens muss er wohl sein.