Geist vor Gefühl
Avantgarde, Ästhetik und Feminismus, das war der erforderliche Dreiklang. So sah es das lesbische Paar, das 1976 in West-Berlin eine legendäre Zeitschrift gründete.
Gabriele Goettle und Brigitte Classen waren aus der westdeutschen Provinz ins brodelnde Berlin gekommen. Sie waren Anfang dreißig, theoriebegeistert und streitbereit.
Ihr Projekt hieß „Die schwarze Botin“. Kleiner Alternativverlag, Auflage 3000, Format A 4, Druck schwarz-weiß, ohne Rubriken, ohne Ressorts, Abbildungen im Kopierladen hergestellt, Preis 5 Mark, Verkauf an Büchertischen.
Die Zeitschrift existierte bis 1980
Beiträge wurden aus dem Umfeld akquiriert, sie kamen unter anderem von Silvia Bovenschen, Gisela Elsner, Elfriede Jelinek, Ursula Krechel, Julia Kristeva, Ginka Steinwachs, Eva Meyer, Gisela von Wysocki. Diese Frauen trauten sich allerhand und trauten sich etwas zu. Im Heft gab es Experimentelles, Literatur, Lyrik, Geschichte, Satire und furiose Kritik.
Kritische Texte galten Hegel und Lacan, Luce Irigaray und Helène Cixous, Ökonomie, Identität, Monotheismus, Antisemitismus, Patriarchat, Hierarchie, Herrschaft, Terror – oder sie galten auch dem Kitsch von Udo Jürgens, den Jelinek seitenlang in Kleinschreibung sezierte.
Die Botin existierte bis 1980, sie atmete einen Hauch von Anarchie und Bohème, was sie verwegen wirken ließ, souverän, abenteuerlich, komplex. Und sie zog sich Feindschaft zu, bis hin zum Boykottaufruf. Gemäß ihrem provokant arroganten Motto „Eine Zeitschrift für die Wenigsten“ legte sie sich mit allen und allem an.
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Sie attackierte die „Innerlichkeit“, Selbstfindungsprosa und körperfixierte „Nabelschau“ strickender Frauen, die naive Idee „weiblicher Sprache“ und die biologistische Idee weiblicher Gemeinschaft. Nein, Bovenschen fand, es sei „Zeit für eine Kampagne wider die Larmoyanz“ der Klagen über Erniedrigung.
Verbale Karateschläge wurden ausgeteilt Richtung „Emma“ oder „Courage“, die im Verdacht standen, Frauen „geistige Schonkost“ vorzusetzen. Fair oder unfair, das war nicht die Frage; es war die „Neigung zur Konsequenz“, die zählte. Gezielte Boxhiebe trafen die Linke, deren „Schutzheilige“ allzuoft aus autoritären Regimen kamen. Mit Che oder Ho war bei der Botin nichts zu holen.
Der Titel ist eine Parodie auf den “Schwarzwälder Boten”
Heute indes erforschen junge Männer mit Verve die Aufbruchsphasen ihrer Elterngeneration. 2015 überraschte Philipp Felsch, 1972 geboren, mit seiner exzellenten Studie zur Geschichte des Merve Verlags im „langen Sommer der Theorie“.
Fünf Jahre später gibt Vojin Sasa Vukadinovic, Jahrgang 1979, eine Dokumentation zur „Schwarzen Botin“ heraus, teils aktuellstes Feuerwerk, teils faszinierendes Textmuseum. (Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976-1980. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. Nachwort v. Magnus Klaue und Christiane Ketteler. Mit Abbildungen, 512 Seiten, 36 €).
Vukadinovics kenntnisreiches Vorwort ordnet die „Schwarze Botin“ – der Titel ist übrigens eine Parodie auf den „Schwarzwälder Boten“ – zeithistorisch ein und zollt dem Projekt Respekt, das „Geist vor Gefühl, Anspruch vor Akzeptanz, Dissens vor Differenz“ setzte.