Gedenken an den Holocaust: Der nächste erbitterte Historikerstreit steht an
Es hätte das nächste Kapitel in der Debatte um die Einzigartigkeit des Holocaust werden können. Der nächste erbitterte Streit nach dem um die antisemitische Werke des indonesischen Künstlerkollektivs auf der diesjährigen Dokumenta.
Doch nun ist der Auslöser dieser Diskussion aus der Welt geschafft worden: Das Goethe-Institut und die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv verschieben nach massiven Protesten aus Israel und auch aus Deutschland die von ihnen geplante Veranstaltung mit dem Titel „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust, Nakba und deutsche Erinnerungskultur“ in eine unbestimmte Zukunft.
Der Begriff Nakba bezeichnet die Vertreibung von 700.000 Palästinensern in den Jahren 1947/48 durch jüdische Kämpfer. Dass beide deutsche Institutionen ursprünglich am symbolträchtigen Jahrestag der Reichspogromnacht von 1938, dem 9. November, in Israel nicht nur über den Holocaust, sondern auch über Palästinenser als Opfer der israelischen Staatsgründung reden wollten, hatte einen Aufschrei der Empörung ausgelöst.
Das israelische Außenministerium forderte eine Absage der Veranstaltung, zeigte sich „schockiert und empört“ über „die eklatante Verharmlosung des Holocaust und den zynischen und manipulativen Versuch, eine Verbindung herzustellen, deren einziger Zweck es ist, Israel zu diffamieren“.
Auch der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, und der Vorsitzende der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem, Dani Dayan, warnten vor schlimmsten Formen der Geschichtsverfälschung. Die Verharmlosung des Holocaust sei „inakzeptabel und respektlos“, so Prosor.
Von einer „unerträglichen Verzerrung des Holocaust“, sprach Dayan, bekannt als Verfechter der völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen auf besetztem Gebiet. Darauf reagierten das Goethe-Institut und Rosa-Luxemburg-Stiftung, bedauerten, den historisch hochsymbolischen Tag für die Debatte gewählt zu haben und verschoben sie um vier Tage auf Sonntag.
Doch auch nach der Verschiebung hielt der Druck an, steigerte sich so, dass auch die Spitze des Auswärtigen Amtes mit der Leitung des von ihm finanzierten Goethe-Instituts beriet – und diese dann mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu dem Schluss kamen, der Widerstand sei zu groß.
Es habe sich „zunehmend ein Diskussionsklima entwickelt“, dass die Veranstaltung unmöglich machte, erklärten beide Organisationen nun. Es müsse „mit massiven Störungen gerechnet werden, die Sicherheit der Podiumsdiskussion“ sei „vor diesem Hintergrund leider nicht zu gewährleisten“. Nun sagen sie, man wolle „über die Neukonzeptionierung“ dieser Veranstaltung nachdenken.
Das ursprüngliche Konzept sah vor, dass die deutsche Journalistin Charlotte Wiedemann mit dem Politologen Bashir Bashir und dem Historiker und Holocaust-Forschers Amos Goldberg debattieren sollte. Wiedemann ist Autorin des in diesem Jahr erschienenen Buches „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“. Sie spricht sich darin laut Veranstaltungsankündigung „für ein neues empathisches Erinnern“ aus, „das verschiedenen Seiten gerecht wird und Solidarität statt Opferkonkurrenz fördert“.
Was vom Yad-Vashem-Direktor und auch von Bundestagsabgeordneten der Union als eine Art Frevel gebrandmarkt wird, verteidigt Susan Neiman, die Direktorin am Einstein-Forum in Potsdam, ausdrücklich. Neiman hat in diesem Jahr mit dem NS-Forscher Michael Wildt das Buch „Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – die Debatte. Der neue Streit über die Wurzeln des Holocaust und die Gewalt im 20. Jahrhundert“ herausgegeben, das festgefahrene Positionen in der Erinnerungskultur hinterfragt und dazu auch Anstöße von Kritikern dieser Gedenkpraxis aufnimmt.
Seitdem die Postkolonialisten den Holocaust als ein Geschehen in einer fortdauernden Gewaltgeschichte deuten, sprechen manche von einem „Historikerstreit 2.0“. Im ersten Historikerstreit hatte sich 1986 die These von der Einmaligkeit dieses Massenverbrechens durchgesetzt.
„Auch wenn der Termin unglücklich gewählt wurde, wäre eine Veranstaltung mit Wiedemann, Goldberg und Bashir, allesamt Erinnerungsforscher aus verschiedenen nationalen Perspektiven, nicht nur legitim, sondern – vor allem zu diesem Zeitpunkt – wichtig gewesen“, sagt die Philosophin nun im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
Mit „diesem Zeitpunkt“ meint Neiman eben nicht den 9. November, sondern den Ausgang der Wahl in Israel, die rechtsreligiöse und rechtsnationale Parteien so sehr stärkte, dass Likud-Chef Benjamin Netanjahu nun aller Voraussicht nach gemeinsam mit diesen Kräften eine Regierung bilden wird. Die Philosophin zielt auf die israelische Innenpolitik. Sie findet es bizarr, dass deutsche Medien dem Streit um das Gedenken in Tel Aviv mehr Aufmerksamkeit widmen als dem Umstand, dass Israel wohl eine „rechtsradikale Regierung“ bekommen wird.
Sie verweist etwa auf Itamar Ben-Gvir, den Führer der Partei Otzma Yehudit, der wegen Terrorismusverdachts nicht in die israelische Armee aufgenommen wurde.
Niemand hatte vor, die in ihren Dimensionen und Konsequenzen völlig unterschiedlichen historischen Ereignisse Holocaust und Nakba gleichzusetzen.
Charlotte Wiedemann, Autorin des Buchs „Den Schmerz der Anderen begreifen“.
Er habe verurteilte Terroristen wie Meier Kahane und Baruch Goldstein verherrlicht, nicht nur ein Attentat auf Yitzhak Rabin in der Öffentlichkeit gefordert, sondern 2007 einen Film koproduziert, der für die Freilassung Yigal Amirs, des Mörders von Rabins, plädierte. Nun hat er Chancen, Minister zu werden. „Wir reden von Politikern, die viel radikaler sind als die AfD oder die Fratelli d’Italia”, meint Neiman.
Das Konzept der attackierten Veranstaltung verteidigt sie explizit: „Ein gemeinsames Andenken ist keine Gleichsetzung, und das Erinnern an andere Formen von Diskriminierung, Folter und Mord ist kein Angriff auf das Gedenken des Holocausts.“ Auch Autorin Charlotte Wiedemann versichert: „Niemand hatte vor, die in ihren Dimensionen und Konsequenzen völlig unterschiedlichen historischen Ereignisse Holocaust und Nakba gleichzusetzen.“
Neiman fordert ein neues Nachdenken über den Versuch, „den Holocaust zum moralisch schlimmsten Ereignis der Geschichte machen“. Auch Deutsche, die „gutgemeint“ ihre historische Schuld betonen wollten, sollten sich überlegen, ob dies „wirklich im Interesse aller“ sei. Und weiter: „Viele Juden meinen heutzutage, dass sowohl unsere moralische Pflicht wie unsere besten Überlebenschancen in der solidarischen Anerkennung der Verbrechen liegen, die andere Völker erlitten haben.“
Genau auf dieser Alleinstellung beharrt die israelische Seite in diesem Konflikt – und auch die Bundesregierung. Die Singularität des Holocausts dürfe „zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt werden“, erklärt das Auswärtige Amt nun.
Autorin Wiedemann, die nun nicht auftreten darf, sieht in dem Vorgang einen „Testfall, wie Deutschland mit der verschärft rechten Stimmung nach den Wahlen umgeht“ und kommt zu einem harten Urteil: „Deutschland hat aus Sicht demokratischer Werte diesen Test nicht bestanden.“ Kritische Gesprächspartner könnten „künftig erst recht nicht mehr am Goethe-Institut auftreten“. Denn die „gezeigte Schwäche“ werde von den rechtsradikalen und gewaltbereiten Milieus der israelischen Gesellschaft „als Bestätigung empfunden“.
Bleibt als Fazit: Diese eine Debatte hat nicht stattfinden können. Doch der „Historikerstreit 2.0“, er wird weitergehen.
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