Frankfurter Buchmesse: In die Jahre gekommen

Rainer Weiss, Jahrgang 1949, zog in den späten 70er-Jahren nach Frankfurt a.M. und war rund drei Jahrzehnte zunächst bei Piper, später bei Suhrkamp tätig. 2007 gründete er den Verlag Weissbooks.w, aus dessen operativen Geschäft er sich 2017 zurückzog. 2021 gründete er erneut: den Belletristik-Verlag Edition W. Als Berater und freier Lektor arbeitet Weiss außerdem für den Westend Verlag.

Seit einigen Jahren werde ich immer häufiger gefragt, welche Veränderungen ich bemerke, wenn ich heute auf „die Messe“ schaue. In diesem Jahr herrscht vor allem die Frage vor: Was hat sich nach der Pandemie verändert? Und: Sind die goldenen Jahre der Szene längst vergangen?

Zur zweiten Frage zuerst: Goldene Jahre hat es eigentlich nie gegeben, sieht man von solchen Phänomenen wie beispielsweise dem Harry-Potter-Rausch ab, der dem Handel insgesamt phantastische Umsätze bescherte, aber auf keinen kleinen oder mittelgroßen Verlag ausstrahlte. „Golden“ war in längst vergangenen Jahren eher, dass das Wort von Autorinnen und Autoren gefragt war, wenn es um entscheidende politische Weichenstellungen ging.

Einst fragte der Kanzler einen Literaten um Rat

Dass ein Kanzler wie Helmut Schmidt in der Zeit des RAF-Terrorismus einen Schriftsteller wie Max Frisch zu seinen Ratgebern zählte, ist fast nicht mehr vorstellbar – so unvorstellbar wie ein Szenario, dass sich Kanzler Scholz eine, sagen wir mal, Büchnerpreisträgerin in seinen Beraterstab holt. Von dem Duo Brandt/Grass gar nicht zu reden. Ich erinnere mich persönlich auch an eine Messe, bei der ein Oskar Lafontaine am Stand des Suhrkamp Verlags vorbeikam und mich, der ich gerade anwesend war, in ein Gespräch über Wolfgang Koeppen verwickelte.

Auch Wolfgang Thierse (SPD) und Norbert Lammert (CDU) waren Messegäste, die mit ernstem Interesse von Stand zu Stand gingen und sich die wichtigsten Titel ausgewählter Verlage erklären ließen. Wie ist das heute? Haben wir noch diese Politiker? Robert Habeck vielleicht? Könnte sein, doch wie auch immer: Die Meinung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern im öffentlichen Diskurs oder gar auf der Ebene politischer Meinungsbildung ist wenig gefragt. Sieht man von dem unvermeidlichen Richard David Precht ab, dessen erzählerische Anfänge freilich auch lange zurückliegen.

Und was hat sich nach der Pandemie verändert? Abgesehen davon, dass Corona und die Maßnahmen der Politik im Handel und für die Verlage (und damit auch für eine riesengroße Zahl von Autorinnen und Autoren sowie Kreativen, die alle bei der Herstellung von Büchern mitwirken) zu finanziell rasanten Talfahrten geführt haben, hat sich insgesamt so etwas wie zunehmende Angst breitgemacht. Angst davor, sich zu einer Haltung zu bekennen, die nicht mehrheitsfähig ist, Angst vor den Ausschlägen einer Cancel Culture, die ohne Debatte zum sozialen Ausschluss führen, Angst – und das die unter Verlegern heftigste – vor dem Verlust von Wirksamkeit, weil die Foren für Auseinandersetzung mit Büchern erheblich kleiner und weniger geworden sind.

Ein drastischer Rückgang von Buchbesprechungen, ein immer überschaubarerer Raum für Diskurse sowie ein geradezu täglich wachsendes Interesse der Medien und Mediennutzer für Halbseidenes auf der Ebene „Bauer sucht Frau“ sorgen dafür, dass Qualitätsprogramme es zunehmend schwerer haben.

Die Welt der Bücher war immer divers

Rainer Weiss

Die Welt der Bücher war immer „divers“, und in den Programmen auch großer Verlage tummelten sich stets Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die aneckten, provozierten, sogar zu Gewalt aufriefen – wie in Büchern von Black-Panther-Aktivisten. Ob das weiter so sein darf – auch das eine Frage nach der Pandemie –, darf bezweifelt werden. Neben einem „Verhaltenskodex“ für alle Anwesenden der Buchmesse 2022 wird ein „Awareness-Team“ installiert, bei dem sich Besucherinnen und Besucher melden können, die sich – etwa wegen ihrer Hautfarbe oder sexuellen Identität – ausgegrenzt oder bedroht fühlen.

Die Intention mag richtig sein, aber solche Teams bräuchte man doch eher auf den Straßen, Trambahnen oder U-Bahnhöfen unserer Gesellschaft, die zunehmend verroht und von Armut bedroht ist – einem Kontext, der auf der Buchmesse nicht einmal marginal gegeben ist.

Dennoch, endlich: Die Buchmesse ist wieder da. Nach zwei coronabedingten beziehungsweise pandemisch begründeten „sehr schweren Jahren“, so Messedirektor Juergen Boos, empfängt Frankfurt seine fast verloren geglaubte Tochter mit ausgebreiteten Armen. Die Tore zu den Hallen sind offen, ein Strom von Besucherinnen und Besuchern wird erwartet. Und alle, alle freuen sich, fiebern der Messe 2022 entgegen. „Messeglück ist zurück in Frankfurt“, schreibt Karin Schmidt-Friderichs auf Facebook und fügt hinzu: „Ein Highlight jagt das andere. Nervöse Vorfreude durchströmt mich.“

Buchländen sind weiterhin unverzichtbar.
Buchländen sind weiterhin unverzichtbar.
© Foto: Boris Roessler/dpa

Dass die seit Oktober 2019 agierende Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels – mithin die Galionsfigur der Branche – sich so jugendlich enthusiastisch äußert, mag ihrem hohen Amt geschuldet sein, kommt mir aber dennoch verdächtig ungestüm vor: als müsse die Branche nach dem rettenden Strohhalm namens Messe greifen, mit dem man sich gegen machtvolle Veränderungen, gegen Krisen an allen Fronten stemmen könne.

Frau Schmidt-Friderichs ist seit mehr als 30 Jahren dabei, und ich ziehe den Hut vor ihr. Und gerne räume ich ein, dass mein Verhältnis zur Messe, die ich wiederum seit mehr als 40 Jahren besuche, so altersgetrübt ist wie meine Linse – und dass ich mit eher kühlem Blick auf Entwicklungen in der Buchbranche sehe, denen kein noch so großer Auftritt vor Ort und in den Medien Einhalt gebieten kann.

Facebook als leicht ergrautes Kommunikationstool

Ich will hier nicht mit Zahlen operieren, die ohnehin überall zu lesen sind, sie belegen ja auch nur, was jeder weiß (und spürt): Bergauf geht‘s gerade eben nicht. So stimme ich auch eher der ins Nüchterne gehenden Vorfreude des Literaturkritikers Carsten Otto zu, der – ebenfalls auf Facebook – festhält: „Nach drei messetechnisch etwas trostlosen Jahren gibt es deutlich wahrnehmbare Anzeichen für eine gewisse Normalisierung …“

Normal ist, dies allerdings schon seit vorgestern, dass Facebook als ebenfalls in die Jahre gekommenes Medium für den Kommunikationsfluss kritischer Geister und Bescheidwisser herhalten muss. Normal ist heute wohl auch, dass die Buchmesse selbst auf Facebook aktiv ist und unter anderem „große Autor*innen“ für die anstehenden Tage ankündigt, zu denen wie selbstverständlich auch „Vanessa Mai“ und „Luisa Neubauer“ zählen (neben Norbert Gstrein und Sebastian Fitzek).

Was „groß“ ist, ist natürlich Ansichtssache. Um die Kirche im Dorf zu lassen: Die Messe war immer schon ein schillernder Platz für zeitgeistig herausragende Akteure und ich erinnere mich gut, wie ich den zwei hünenhaften Klitschko-Brüdern begegnet bin oder wie ich Bushido aus einer schwarzen Staatskarosse habe steigen sehen. Oder auch, wie die stöckelnde Verona (damals noch) Feldbusch, mit großer Geste ihren „kleinen Feldbusch“ (das weltbewegende Tagebuch ihrer Schwangerschaft) vorstellte. Aber von „großen Autor*innen“ zu sprechen, wäre seinerzeit wirklich niemandem eingefallen.

Kommen wir endlich zur Frage nach der Zukunft des Buches: Werden Bücher immer unwichtiger, steuert die Buchproduktion auf ihr Ende zu? Deutlich Jüngeren als ich es bin, muss ich sagen: Diese Frage wurde bereits bei meiner ersten Messe 1978 gestellt. Immer wieder war das Buch von Gefahren umzingelt und stets hat es sich behauptet – bei einer zwar kleineren Leserschaft als 1978, aber im Kern stets stabilen. Ich zitiere hier gerne den legendären Verleger Siegfried Unseld mit einer Anekdote, die ich so im Ohr habe.

Unseld: „Im Jahre 1961 schrieb der kanadische Zukunftsforscher Marshall McLuhan das Buch „The Gutenberg Galaxy“, in dem er den Tod des Buches für 1981 vorhersagte. Am 31.12.1980 aber starb nicht das Buch, sondern Marshall McLuhan.“ Humorvoll schrieb nach 2000 ein Robert Gernhardt: „Ums Buch ist mir nicht bange./Das Buch hält sich noch lange.“ Oder eher flapsig der Amerikaner David Foster Wallace: „Ich tue so Dinge wie in ein Taxi zu steigen und zu sagen: Zur Bücherei – und geben Sie Gas!“

Zurück in die Realität mit Tilman Spreckelsen und der FAZ: „Kurz vor der Messe ächzt der Buchmarkt … Zu den gestiegenen Herstellungskosten kommt die Zurückhaltung der ja ebenfalls gebeutelten Käufer.“ Und: Der Umsatz „bleibt in den meisten Bereichen immer noch hinter dem der Zeit vor Corona zurück.“ Stimmt – und denken wir für einen Moment bitte nicht an die noch kommenden Auswirkungen des Ukraine-Krieges. Man könnte verzweifeln. Verzweiflung aber liegt Büchermenschen nicht.

Ja, liebe Frau Vorsteherin, auch ich freue mich auf die Buchmesse.

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