Historienfilm „Unruh“ im Kino: Anarchisten in der Schweiz

Zu Beginn der Industrialisierung organisierte sich Arbeit nicht mehr allein anhand ökonomischer Maßstäbe, sie wurde auch zu einem Instrument der Kontrollausübung der herrschenden Klasse. Dass Arbeitsabläufe immer kleinteiliger wurden, entband die Arbeiterschaft von jeglicher handwerklicher Individualität im Prozess der Wertschöpfung. Die Logik des Taylorismus funktionierte selbst wie eine Maschine, die in den Fließbändern Henry Fords ein schlüssiges Bild fand.

Das gesellschaftliche Leben wiederum begann sich damals im Zuge der zunehmenden Mobilität des Warenhandels immer stärker durch die Zeit und ihre fortschreitende Synchronisierung innerhalb erstarkender Nationalgrenzen zu strukturieren. 1848 betrug der Zeitunterschied zwischen dem westlichsten und östlichsten Teil der Schweiz noch 18 Minuten.

Umbrüche im Herz der Uhrenproduktion

Cyril Schäublins Film „Unruh“ über die zarten Anfänge des Kapitalismus in einem Tal im Schweizer Jura, Mitte des 19. Jahrhunderts das Herz der eidgenössichen Uhrenproduktion, verknüpft die ordnenden Systeme von Zeit und Arbeit zu einem frappierenden Zeitbild, das die gesellschaftlichen Bewegungen jener Jahre bereits im Titel aufgreift.

Unruhe heißt auch das Federsystem in mechanischen Uhrwerken, deren Schwingungen im Zusammenspiel mit der Hemmung der Uhr den Zeiger bewegen. Die Sinnhaftigkeit des Titels liegt auf der Hand: Die unkontrollierte Schwingung muss zum Wohl der gesellschaftlichen Ordnung beherrscht werden. Zuständig dafür ist unter anderen die Arbeiterin Josephine Gräbli (Clara Gostynski). Die Ironie, dass in den Uhrenmanufakturen in den 1870er tatsächlich der Anarchismus aufblühte, ist an Schäublins Film nicht verloren.

Damals kam der russische Kartograf Pjotr Kropotkin auf seinen Reisen durch Westeuropa auch erstmals in Berührung mit dieser politischen Philosophie: „Die Handlungs- und Gedankenfreiheit, die ich unter den Arbeitern im Schweizer Jura-Gebirge vorfand, berührten mich sehr; und nach ein paar Wochen bei den Uhrmachern stand meine Auffassung vom Sozialismus fest: Ich war Anarchist“, zitiert Schäublin am Anfang von „Unruh“ aus Kropotkins 1899 veröffentlichten„Memoiren eines Revolutionärs“.

Hirngespinste der Moderne

Zu Beginn amüsiert sich eine Gruppe adliger Russinnen über den armen Narren, der in der Schweiz einem modernistischen Hirngespinst aufsaß. Kropotkin, gespielt von Alexei Evstratov, kommt im Jura mit hehren Idealen an, er möchte eine „anarchistische“ Landkarte der Region erstellen, die Gegenwart, Vergangenheit und eine utopische Zukunft abbildet.

Nach ein paar Wochen bei den Uhrmachern stand meine Auffassung vom Sozialismus fest: Ich war Anarchist.

Pjotr Kropotkin, Kartograf (1842-1921)

Noch stehen alle Optionen für gesellschaftliche Veränderungen offen. Vier Zeitmessungen konkurrieren in dem Ort Saint-Imier, obwohl in der Schweiz bereits 1852 mit der Inbetriebnahme des Telegrafennetzes die regionalen Zeiten synchronisiert wurden. Die Hoheit über die Zeit ist noch nicht ausgehandelt, die Pressefreiheit dagegen noch ein hohes Gut. Die anarchistischen Druckerzeugnisse seien informativer als die bürgerliche Presse, erklärt der Uhrenfabrikant Roulet (Valentin Merz), der sich mit der exaktesten Zeitmessung in Saint-Imier rühmt, einmal einem italienischen Diplomaten.

Ein Tableau politischer Ideen

Die Chancen auf einen friedlichen Aufbruch stehen gut. Selbst die Sammelbilder mit Anarchisten, von einem Fotografen vor Ort aufgenommen – die Fotografie markiert neben Telegrafie, Kartografie und Zeitmessung die Ankunft der Moderne im Juratal –, werden unter den Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich gerade gewerkschaftlich zu organisieren beginnen, hoch gehandelt. „Unruh“ ist, entgegen seines Titel, ein Film der kleinen Veränderungen, nicht der gewaltsamen Umbrüche.

Anarchismus steht hier nicht gleichbedeutend für Chaos, sondern als Antriebsfeder sozialer Gerechtigkeit. Auch die zentralperspektivischen Bilder von Kameramann Silvan Hillmann spielen mit diesem vermeintlichen Widerspruch: Immer wieder schieben sich mit zeitlicher Verzögerung aus der Peripherie Menschen ohne Unterleib in den Mittelpunkt seiner tableauhaften Einstellungen, getragen nur von ihren Stimmen und Vogelgezwitscher.

Die Hoffnung eines utopischen Historismus, dass sich aus der Vergangenheit in der Gegenwart funktionierende gesellschaftliche Modelle herleiten lassen (integral in vielen Kostümfilmen), ist aus Schäublins Film getilgt, der lediglich Möglichkeiten von politischen Ideen nebeneinanderstellt. Selbst die Vorstellungen von Sozialismus und Nationalismus sind in „Unruh“ nur performt, einmal von einem Arbeiterchor, einmal von einer Trachtengruppe, die die Nationalhymne spielt. Solche dialektischen Strategien beabsichtigen aber keineswegs, diese Ideale gleichzusetzen, trotz einer ironisch-distanzierten Inszenierung. „Unruh“ ist in seinen Verfremdungseffekten nicht reaktionär, sondern für einen politischen Historienfilm einfach nur erstaunlich klarsichtig.

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