Der Kampf der Geisterfrauen
New Jersey in den späten 1910ern und frühen 1920ern. In einer Welt, die von Vorwärtsdrang und Kapitalismus als Teil des amerikanischen Traums, aber auch altmodischem Sexismus geprägt wird, arbeiten viele Frauen neuerdings für die US Radium Corporation. Die Firma stellt weithin bekannte Uhren her, deren Ziffern und Zeiger im Dunkeln leuchten. Eine Sensation, wie die Plakate und Werbetafeln verkünden.
Grace, Mollie und ihre Kolleginnen – die Hauptfiguren von „Radium Girls – Kampf um Gerechtigkeit“ (Übersetzung Christiane Bartelsen, Carlsen, Hardcover, 136 S., 20 €) – tragen die spezielle radioaktive Glow-in-the-Dark-Farbe in der Fabrik von Hand mit dem Pinsel auf, im Idealfall schafft jede von ihnen 250 Uhren pro Schicht. Laut ihrer strengen Vorgesetzten müssen sie die Pinsel zwischendurch mit dem Mund befeuchten und anspitzen, was angeblich komplett unbedenklich sein soll.
Weil die Arbeiterinnen wegen der Farbe auch nach Feierabend im Dunkeln, etwa im Kino oder im Hausflur daheim leuchten, nennt man sie scherzhaft Ghost Girls („Geisterfrauen“), später Radium Girls. Manche von ihnen benutzen die Farbe sogar heimlich für ausgefallenes Make-up, wenn sie am Abend in einer illegalen Bar mit Alkoholausschank zur Zeit der Prohibition feiern gehen wollen.
Die lebensfrohen Frauen ahnen lange nicht, dass die regelmäßige Dosis an Strahlung ihre Gesundheit ruiniert. Die Krankheit fängt mit Zahnverlust und Knochenschmerzen an, kann zu Fehlgeburten führen und endet meistens mit dem frühen Tod.
Als immer mehr Kolleginnen sterben – was die Freundinnen meistens schockiert aus der Zeitung erfahren – und sie selbst merkwürdige Symptome und verdächtige Gebrechen haben, ist es bereits zu spät. Sie können nicht mehr von den Folgen der radioaktiven Leuchtfarbe geheilt werden. Trotz der Ausweglosigkeit ihrer gesundheitlichen Lage und ihres mächtigen Gegners aus der Wirtschaft ziehen die Frauen vor Gericht.
Der Stoff wurde auch verfilmt
Heute weiß man, dass sie damit das amerikanische Arbeitsschutzgesetz revolutionierten, die Konsequenzen aus dem Fall ein ganz wichtiger Richtungszeig für den gesetzlich festgelegten Schutz von Arbeiterinnen und Arbeitern waren.
Dennoch ist die historisch verbürgte Geschichte der Radium Girls nicht allzu bekannt. 2018 entstand zwar ein gleichnamiger Film der Regisseurinnen Lydia Dean Pilcher und Ginny Mohler, ging durch die Corona-Pandemie 2020 aber ziemlich unter und erhielt ohne richtige Kino-Zirkulation bisher kaum Aufmerksamkeit.
Die französische Comic-Künstlerin Cy. schnappte die Story erstmals online in den Sozialen Medien auf und dachte beim Spitznamen „Radium Girls“ für die betroffenen Arbeiterinnen von damals zunächst an eine aktuelle Musikband. Umso überraschter war sie von dem, was sie dann nur einen Klick später erfuhr.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Cy. faszinierte der historische Stoff über die Schattenseiten des Fortschritts, menschenverachtenden Kapitalismus, ewigen Sexismus sowie den Drang, das Richtige zu tun – oder es aus Feigheit zu unterlassen, wie im Fall eines Wissenschaftlers in der Uhrenfabrik, der früh von den Folgen der Radiumfarbe wusste, die Frauen halbherzig warnte und es dann auf sich beruhen ließ, weil er gekündigt bekam.
Luftige Inszenierung
Also machte die Französin, die durch ihren YouTube-Kanal und ihre Arbeit für Madmoizelle.com ein großes Publikum gewonnen hat, aus der Story eine Graphic Novel. Die basiert teils auf dem Buch „The Radium Girls: The Dark Story of America’s Shining Women“ von Kate Moore aus dem Jahr 2017.
Cy. konzentriert sich in ihrer Umsetzung auf die Frauen und deren lebendige, authentische Freundschaft – und fängt ihre ambivalente Lebenswirklichkeit in der Ära der Prohibition mit wenigen luftigen Szenen gut ein.
[Weitere Tagesspiegel-Artikel zu Comics über starke Frauen gibt es hier: Ausbruch aus der Schönheitsfalle, Aus der Vogelperspektive, Geburt, Tod und der ganze Wahnsinn dazwischen.]
Zu all dem passt auch der leichte, bunte Zeichenstil. Cy. nutzte für die Umsetzung nur acht Buntstifte einer limitierten Farbpalette um Rosenrot und Radiumgrün in verschiedenen Kombinationen bzw. übereinander aufgetragenen Schichten. Doch die Luftigkeit der Visualisierung und der Figurenzeichnung nimmt den „Radium Girls“ weder ihre Tragik, noch ihre Bedeutung.
Der Einband des deutschsprachigen Hardcovers, das im Anhang noch ein interessantes Interview mit Cy. enthält, leuchtet im Dunkeln – allen voran die Gesichter der Protagonistinnen. Witzig oder makaber? Das müssen die Lesenden selbst entscheiden. Diese Geschichte und dieser Comic hätten auch ohne dieses Gimmick hinreichend geleuchtet.