120 mal Sonnenuntergang: Die Kunsthalle Bremen lässt es glühen
„Meet me at Sunset“ steht auf den Kitschpostkarten, die in der Bremer Kunsthalle kostenlos ausliegen. Offensiv stürzt sich die Ausstellung in die banale Bilderflut farbglühender Sehnsuchtsbilder. Gleich im zweiten Raum wurde eine handelsübliche Fototapete an die Wand gekleistert. Auf Horizonthöhe segeln davor winzige Ölstudien aus dem 19. Jahrhundert wie ferne Boote vor sinkender Sonne unter Palmen.
Längst ist das berückende Farbspektakel, das die Natur jeden Abend veranstaltet, zum Allerweltsmotiv heruntergekommen. Aber der Sonnenuntergang ist mehr. Eine Rettungsmission hat sich Kuratorin Annett Reckert auf die Fahnen geschrieben. 120 Exponate seit dem 16. Jahrhundert fangen die unterschiedlichsten Inhaltsaspekte und Darstellungsmodi des Sujets ein.
Ihre Kollegin Friederike Quander verfolgt tagtäglich von ihrem Büro gen Westen das Schauspiel, immer von Neuem gebannt. Die Dramaturgie des Herabgleitens und Verschwindens ist ja auch perfekt. Dabei gibt es ihn streng wissenschaftlichen genommen gar nicht, den Untergang der Sonne. Bloß unsere Erdkugel rotiert. That’s it.
Schnöde schwebende Staubpartikel in der Atmosphäre sorgen für die ans Herz rührenden Farbbrechungen. Solchen sachdienlichen Background mitzuliefern scheut die Ausstellung nicht. Eine der kostbarsten Leihgaben ist Monets impressionistischer Blick aufs vernebelte Londoner Parlament.
Dutzendfach hielt er die wechselnden Farbverfremdungen 1904 vor Ort fest. Ein Jahr darauf kam erstmals der Begriff Smog, gemixt aus Smoke und Fog, in Gebrauch. Monet atmete die giftige Gemengelage ein. Mit seiner Malerei wurde er zum Kronzeugen der industriellen Luftverschmutzung: Klimaforscher werten es als Quellenmaterial.
Wenn auf dem Ölschinken daneben eine feurig glühende Sonne den Himmel in Brand setzt, meint man die Klimaerwärmung buchstäblich zu spüren. Allerdings entstand das psychedelisch leuchtende Gemälde bereits 1845, angesichts der malariaverseuchten Pontinischen Sümpfe bei Rom.
Seit die deutsche Romantik den Sonnenuntergang als Motiv entdeckt hatte, steigerte sich nicht nur der Mut in der Farbwahl, sondern auch die Gefühlstemperatur der dargestellten Landschaften. Auf einem kleinen Meisterwerk Caspar David Friedrichs steht eine Frau in Rückenfigur einfach still.
Uns verstellt sie den Blick auf den Brennpunkt des Geschehens. Weltschmerz, Jenseitshoffnung, Wehmut, Vergänglichkeitsgedanken glimmen auf. Was genau in ihr vorgeht und welche Botschaft der Maler damit bezweckte, bleibt offen – ein Streitfall bis heute.
Ob Bergeshöhen oder Meeresweiten: sSatt sich chronologisch durch die Jahrhunderte zu wälzen, flaniert die Ausstellung heiter essayistisch durchs Themengelände. Den touristischen Blick pflegte bereits der reisefreudige William Turner.
Ein wandfüllendes Dutzend kostbarer Graphiken aus dem hauseigenen Kupferstichkabinett zeigt, dass sich auch mit Schwarzweiß der Sonnenabgang ins Bild zaubern ließ. Claude Lorrain darf nicht fehlen, Hendrick Goltzius steuert mit dem Sonnenwagen des Phaeton einen mythologischen Schlenker bei.
Und Architekt Le Corbusier steckt gleich zwei Sonnenbahnen ans Firmament überm Hochhaus. Bei Otto Dix hingegen brennt das sinkende Gestirn den Soldaten im Schützengraben ins Genick.
Keiner kostete das Serielle des Vorgangs so erschöpfend aus wie Andy Warhol. 632 Siebdruck-Unikate umfasst seine Serie, geschaffen für ein US-Luxushotel. Nahezu abstrakt leuchtet es in poppigem Türkis, Pink und Gelb.
Felix Valloton daneben, erreichte bereits um 1900 dieselbe Farbintensität. Schon zu seiner Zeit schwächelte das Sujet, geriet in Verruf, ausgenudelt von allzu gefühliger Salonmalerei. Um aller Erhabenheit den Garaus zu machen, klemmte Dieter Roth anno 1968 eine fettige Wurstscheibe als Sonnenrund zwischen zwei Papierblätter. Seither schimmelt sie heiter vor sich hin.
Aber Schluss ist noch lange nicht. Der 1985 geborenen Künstlerin Johanna Jaeger reichte der Widerschein des Tageslichts auf ihrer Schreibtischplatte als Basis für eine fotografische Neuauflage. Ihre Serie schimmert in zartesten Farbnuancen, ganz wie seinerzeit in der Romantik. Und auch für Gefühle ist wieder Raum.
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