Im Land der Monster

Die türkische Regierungspartei AKP ist ein Jahr vor den Wahlen zu Parlament und Präsidentenamt auf Krawall gebürstet, und das nicht nur im Nato-Streit. Die Türkei wird von einer Zensurwelle gegen Kulturveranstaltungen überrollt: Konzerte werden verboten, Theateraufführungen untersagt, in Museen Bilder abgehängt. Die AKP will mit dem Kulturkampf konservative Wähler mobilisieren.

Allein vergangene Woche wurden mehrere Konzerte von AKP-Behörden verboten. So ein Auftritt der Popsängerin Melek Mosso im südtürkischen Isparta: Konservative Gruppen hatten die schulterfreien Kleider der Künstlerin als „unsittlich“ kritisiert. An der Nahost-Universität in Ankara untersagte das Rektorat gleich mehrere Konzerte eines Musikfestivals mit der Begründung, dass am Vortag türkische Soldaten in Nordirak gefallen seien und Musik deshalb zu unterbleiben habe. Ein Auftrittsverbot gegen den Rockmusiker Niyazi Koyuncu in Pendik am Südrand von Istanbul begründete die AKP-Verwaltung damit, dass der Künstler „nicht die Werte und Ansichten der Stadtverwaltung vertritt“.

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Begonnen hatte die Zensurwelle mit dem Verbot eines Konzerts der kurdischen Sängerin Aynur Dogan, einer international bekannten Künstlerin mit gewaltiger Stimme. Aus dem Film „Crossing the Bridge“ ist sie auch einem deutschen Publikum bekannt. Dogan wollte im westtürkischen Kocaeli auftreten, doch die Stadtverwaltung hielt das Konzert für „unpassend“ – ein Allzweck-Begriff türkischer Behörden für Verbote.

Was den Lokalpolitikern in diesem Fall nicht passte, waren Dogans kurdischen Texte, obwohl die kurdische Sprache in der Türkei offiziell seit Jahren nicht mehr verboten ist. Seither hagelt es Verbote gegen kurdische Künstler. So beklagte sich die kurdische Opernsängerin Pervin Chakar, dass sie nirgendwo einen Saal für Konzerte bekomme.

Die Verbotslawine erfasst immer mehr Künstler

Inzwischen hat die Verbotslawine über die kurdische Kultur hinaus andere Künstler erfasst. Niyazi Koyuncu etwa gehört zur ethnischen Minderheit der Lasen von der Schwarzmeerküste; sein verstorbener Bruder Kazim Koyuncu prägte den türkischen Folk-Rock mit seiner Fusion von Volks- und Rockmusik. Verboten wurde auch ein Konzert des türkischen Volksmusikers Apolas Lermi, weil er zuvor gegen ein Auftrittsverbot für einen griechischen Musiker protestiert hatte.

Ein viertägiges Rockfestival, das „Anadolu Fest“ im westtürkischen Eskisehir, ließ man zwei Tage vor Beginn absagen, als zehntausende Karten verkauft waren – zum Schutz der öffentlichen Ordnung, wie das Gouverneursamt der Provinz erklärte. Konservative Kreise kritisieren solche Veranstaltungen als jugendgefährdend, weil dort Alkohol und Drogen konsumiert würden. Landesweit gilt in der Türkei zudem noch immer ein komplettes Musikverbot ab einer Stunde nach Mitternacht; offiziell wird das von den Behörden mit der Covid-Pandemie begründet, doch Staatspräsident Erdogan bezeichnete es als Schutz der Bevölkerung vor Belästigung.

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Die bildende Kunst bleibt von diesem Klima nicht verschont. Auf Druck von AKP-Politikern hängte ein Istanbuler Museum letzte Woche ein Wandbild des Künstlers Ersin Karabulut ab. Das Bild aus seiner Serie „Monsterland“ stellt Monster dar, die in einem fiktiven Tourismusland die Touristen fressen. Nicht das Schicksal der Touristen störte die Politiker der Regierungspartei daran, sondern der Penis an einem Monster.

Mit der Moralkeule

Die Verbote dienen der Regierungspartei vermutlich zum einen zur Polarisierung der Gesellschaft. Sie will ihre islamisch-konservativen Anhänger um sich zu scharen und gegen die Opposition mobilisieren, die als landesverräterisch und unmoralisch dargestellt wird. Die AKP hat wegen der desolaten Wirtschaftslage miserable Umfragewerte und heizt deshalb in den sozialen Medien den Volkszorn gegen „Unmoral“ an.

Zum anderen, vermutet der langjährige AKP-Kenner Rusen Cakir von der Analyse-Plattform Medyascope, dürfte eine gewisse Rachsucht der Regierungspartei dahinter stecken, weil sie es in zwanzig Jahren an der Macht nicht geschafft habe, eine eigene Kulturszene aufzubauen. Die Regierung sei frustriert davon, dass die meisten Kulturschaffenden im Land gegen sie opponieren, meint Cakir. Zwar gibt es auch Volksmusiker und Schauspieler, die sich mit Präsident Erdogan fotografieren lassen. Aber die Mehrheit der türkischen Künstler und Kulturschaffenden lehnt das Regime ab, weil es die für die Kunst lebenswichtigen Freiheiten immer weiter beschränkt. Kritische Kulturschaffende in der Türkei blicken in den Abgrund.