Spielzeit: 48 Stunden Neukölln lassen die Luft im Bezirk knistern

Kaum jemand hätte 1999 gedacht, dass das Kunstfestival 48 Stunden Neukölln, dieses Low-Budget und Grassroots-Projekt, pragmatisch nach seiner Veranstaltungsdauer benannt, zu einem der Kulturhighlights der Stadt werden und sich im Jahr 2023 zum 25. Mal wiederholen würde. Das Leben im damals sogenannten Problembezirk zwischen Problemzonen, Problembahnhöfen und Problemschulen sollte lebenswerter gemacht werden. Heute wird der Bezirk für 48 Stunden zum Play(Ground), also Spiel(Platz) erklärt. Und das nicht nur, um den Krisen der Gegenwart, die schon im Sommer 2022 Festivalthema waren, etwas Positives entgegenzusetzen, sondern auch mit einer konstruktiven Note.

Der Play(ground) hat nämlich eine Doppelbedeutung: Im Spiel (Play) liegt vieles begründet (grounded). Für den Homo Ludens etwa, der das Sozialverhalten im Spiel erlernt, ist es nicht weniger als seine gesamte Kultur, von der einfachsten Benimmregel über die Fairness bis zu Strategien der Konfliktlösung. Kurzum: Das Spiel ist Ernst.

Das Spiel ist Ernst

So nimmt sich die Künstlerin Nathalie Mei auf dem Mittelstreifen der Schillerpromenade bei ihrem Projekt „We build the City“ mit dem gebotenen spielerischen Ernst stadtplanerischer Fragen an, um die Stadt als soziale Skulptur neu zu erschaffen. Passend dazu denkt sich ein Künstlerinnenquartett den Zustelldienst DHL neu aus. Sein Dienstleistungsversprechen bleibt echt, zugestellt werden allerdings keine materiellen Güter, sondern Gefühle.

Mit solchen Lieferungen ließe sich vielleicht sogar das Projekt „Theater der Verrückten“ ein wenig stabilisieren, das sich auf dem Richardplatz performativ mit selbst entwickelten „Spielplatz-Psychosen“ befasst. Der Dreh: Sogenanntes Verrücktsein soll hier nicht pathologisiert, sondern entfaltet werden.

Um Entgrenzung anderer Art geht es bei der Protesttour „?Whyborders“. Die von Geflüchteten und sich noch auf der Flucht befindenden Künstler:innen organisierte Schau spielt in Gedichten, Zeichnungen, Malerei und Fotografien mit der Idee einer grenzenlosen Welt, die dem oft lebensbedrohlichen, wie sie es nennen, Grenzüberschreitungs-Game gegenübersteht, das viele der hier Teilnehmenden hinter sich haben.

Als eine Art Realitätscheck könnte auch die Arbeit des britischen Künstlers Jeremy Knowles taugen, der der allerorten gehypten Virtual Reality eine „Aktuelle Reality (AR)“ (sic!) entgegenstellt. Im Workshop entstehen AR-Brillen aus Pappe, mit denen die Teilnehmer:innen anschließend Reality-Aktionen im Stadtraum durchführen.

Entgrenzung im Prekären

Begegnet Knowles der VR mit AR, setzt das Kollektiv Reflektor dem KI-Hype die Schwarmintelligenz von Luftballons entgegen, während direkt nebenan das Kollektiv „The Boys Club“ zeigt, was Künstlerinnen, Designerinnen und Gestalterinnen ohne die Zwänge von Auftraggebenden erschaffen. Vorab-Fazit: Von den wirklich interessanten Dingen hält die Lohnarbeit Kreative offensichtlich nur ab.

Eben das dürfte an manch anderer Stelle des Festivals noch deutlicher werden. Als Low-Budget-Projekt, das vom Aufgebot aller Arbeiten nur Teile fördern kann, machen die 48 Stunden nämlich alljährlich auch die prekären Produktionsbedingungen vieler Künstler:innen sichtbar, die im krassen Widerspruch zu ihrem Willen stehen, dennoch zu produzieren, auszustellen und als Künstler:innen zu leben.

Rund 1.200 Kunstschaffende beteiligen sich von Freitag bis Sonntag an 350 Veranstaltungen an 300 Orten, weshalb die hier genannten Beispiele nicht mehr als einen Anreiz bieten können – das vollumfängliche Programm finden Sie hier. In Neukölln wird, so zumindest die auf jahrelanger Erfahrung beruhende Prognose, auch diesmal die Luft knistern. Ausstellungen, Aktionen und Performances werden einem an der Supermarktkasse, auf dem Friedhof und im Späti begegnen. Es empfiehlt sich daher, den Bezirk offenen Auges und mit viel Zeit zu erkunden, sich auf das Spiel der Kräfte einzulassen und spontanen Eingebungen zu folgen, statt eine Liste persönlicher Must-Sees abzuarbeiten. Wer letzteres tut, verdirbt sich womöglich selbst das Spiel.