Lügner leben länger

Kein anderer nationalsozialistischer Spitzenfunktionär hat nach 1945 seine Lebensgeschichte besser vermarktet als Albert Speer. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher behauptete der ehemalige Rüstungsminister, nichts vom Völkermord an den europäischen Juden gewusst zu haben. Diese Lüge bewahrte ihn vor dem Todesurteil. Nachdem er seine 20-jährige Haftstrafe abgesessen hatte, wurde Speer bei einer Pressekonferenz in einem Berliner Hotel von Journalisten aus aller Welt wie ein Popstar empfangen. Ein britischer Reporter zählte mehr Mikrofone, „als ich jemals bei Hitler sah“. Speers „Erinnerungen“, an denen er schon im Spandauer Gefängnis zu arbeiten begonnen hatte, wurden in 14 Sprachen übersetzt und verkauften sich mehr als eine Million Mal.

Rüstiger Rentner in Heidelberg

Vanessa Lapas erhellender und streckenweise erheiternder Dokumentarfilm „Speer Goes to Hollywood“ beginnt mit Fernsehbildern, die Speer als rüstigen Rentner im Arbeitszimmer und im Garten seines Heidelberger Hauses zeigen. Eloquent erzählt er auf Englisch und Französisch von den vielen Leserbriefen, die er allesamt beantworte, und von der Schuld, die „wie eine Bürde“ auf ihm laste. Sein kultiviertes Auftreten schien in das Bild eines Bildungsbürgers zu passen, der zwar nach 1933 eine steile Karriere machte, aber angeblich nichts mit den Verbrechen zu tun hatte, die sich um ihn herum ereigneten. Speer galt als guter Nazi, der sich bemüht hatte, Schlimmeres zu verhindern. Kurz vor Kriegsende wollte er sogar ein Attentat auf Hitler geplant haben.

Hollywood interessiert sich für den Nazi-Stoff

Nichts davon war wahr, aber das hinderte Hollywood nicht daran, sich für den Stoff zu interessieren. 1971 erwarb der New Yorker Anwalt Stanley Cohen die Filmrechte für die Memoiren, die bei einem Londoner Verlag unter dem Titel „Inside the Third Reich“ herausgekommen waren. Das Paramount-Filmstudio engagierte den jungen britischen Drehbuchautor Andrew Birkin, der als Regieassistent für Stanley Kubrick gearbeitet hatte. Während er das Skript schrieb, lebte er mehrere Monate bei Speer in Heidelberg. Die Gespräche, die sie führten, nahm er auf Tonband auf. Aus dem vierzigstündigen Material hat Lapa einen Großteil der Tonspur von „Speer Goes to Hollywood“ kompiliert. Weil die Tonqualität der Bänder schlecht war, wurden die Dialoge von Schauspielern nachgesprochen.
Speer fühlte sich geschmeichelt, fürchtete aber, dass ein Spielfilm nicht „das Niveau“ seines schönfärberischen Buches erreichen könnte. Seine Beziehung zu Hitler sei „Liebe auf den ersten Blick“ gewesen. 1931 hatte Speer Hitler bei einer Rede vor Studenten erlebt, ein Jahr später trat er in die NSDAP ein. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten machte der Architekt schnell Karriere, inszenierte mit Scheinwerfern „Lichtdome“ für Hitlers Auftritte bei Parteitagen, entwarf für ihn eine megalomane Reichskanzlei. Macht, sagte er, sei etwas, „das mich sehr beeindruckt“. Er stieg zum Vertrauten des Diktators auf, der ihn für einen begnadeten Organisator hielt.

Groteske Momente

„Speer Goes to Hollywood“ hat groteske Momente, etwa wenn Speer seinen Gast umwirbt, indem er für ihn Plumpudding von einer britischen Militärbäckerei besorgt. Überhaupt weicht Speer gerne aufs Essen aus, vor allem, wenn Birkins Fragen kritisch werden. Speer, das zeigt sich bald, war alles andere als ein Opportunist. Hitlers Überzeugungen, seinen Hass auf die Demokratie und die Juden hat er geteilt. Zwar behauptet Speer gegenüber Birkin, kein Antisemit zu sein, gibt dann aber gleich darauf das antisemitische Klischee von sich, dass Juden in der Weimarer Republik reicher als andere Deutsche gewesen seien. Die Errichtung von Konzentrationslagern rechtfertigt er damit, dass die Gefängnisse nicht ausgereicht hätten, um alle Regimegegner aufzunehmen. Und der Krieg sei für ihn „nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch ein Abenteuer“ gewesen. Allerdings eines hinter der Front.

Lügengeschichten gegen Zeugenaussagen

Vanessa Lapa, die in Belgien geboren wurde und heute in Israel lebt, hatte für ihren Himmler-Dokumentarfilm „Der Anständige“ ausschließlich auf O-Töne des SS-Führers zurückgegriffen. Ganz so konsequent ist sie bei ihrem Speer-Porträt nicht. Die Lügengeschichten ihres Protagonisten konterkariert sie mit Zeugenaussagen von Holocaust-Überlebenden aus dem Nürnberger Prozess. Die Medien-Farce bekommt dabei mehr und mehr die Züge einer Tragödie.

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In Nürnberg plädierte Speer auf „nicht schuldig“. Von der „Evakuierung“ der Juden habe er zwar gewusst, sei daran aber nicht beteiligt gewesen. Dabei war er als Rüstungsminister ab 1942 verantwortlich für 14 Millionen Zwangsarbeiter, unter denen auch Juden waren. Mindestens ein Drittel von ihnen kam ums Leben. Sie mussten unter unmenschlichen Bedingungen in Todesfabriken wie dem Konzentrationslager Dora-Mittelbau dafür sorgen, dass Speer Rüstungsziele erreichte. Vor Gericht gelang es ihm, die Schuld dran auf seinen Untergebenen Fritz Sauckel zu schieben. „Ich musste scharfsinniger sein als Sauckel“, sagt er zu Birkin, „so scharfsinnig wie Voltaire“. Sauckel wurde zum Tod verurteilt.

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Es lässt sich nur darüber spekulieren, warum Birkins Drehbuch schließlich nicht verfilmt wurde. Wahrscheinlich, weil es zu offensichtlich war, dass sich da ein Täter zum Opfer stilisieren wollte. Carol Reed, der als möglicher Regisseur gehandelt wurde, warnte Birkin davor, auf Speer reinzufallen. Der Minister müsse gewusst haben, dass er KZ-Gefangene ausbeute. Im Gespräch mit Birkin schwebt Speer gerne bildungsbeflissen in höheren Sphären. Sein eigenes Schicksal vergleicht er mit dem von Ödipus aus der Tragödie von Sophokles. Von seinen Verbrechen will er erst erfahren haben, als er in Nürnberg mit ihnen konfrontiert wurde.